Forschung "Die Polen essen uns die Suppe weg!"

Menschenrechte in der Sozialen Arbeit: Ein studentisches Forschungsprojekt zu rassistischer Diskriminierung in der Wohnungslosenhilfe

Ein Teller mit Suppe und einem Löffel
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„Die Frau sagte, geh’ nach hinten und warte dort, die Deutschen sind zuerst dran. Sie dachte, ich verstehe sie nicht. Sie sagte, wenn wir uns aufregen, lasse ich euch nicht rein. Das war im Winter, es gab keine anderen Schlafplätze.“

„Man hat weniger zu essen gegeben. Die Mitarbeiterin hat gesagt, wir sollen wieder in die Heimat zurückgehen. Sie hat gesagt, wir sollen nicht wiederkommen.“

Diese und andere Szenen berichteten wohnungslose Unionsbürger_innen auf die Frage nach Ereignissen in Einrichtungen der sogenannten niedrigschwelligen Wohnungslosenhilfe Berlin, bei denen sie das Gefühl hatten, aufgrund ihrer Nationalität schlechter behandelt zu werden als deutsche Nutzer_innen.

Ausgehend von meinen Praxiserfahrungen in unterschiedlichen Einrichtungen der leicht zugänglichen Wohnungslosenhilfe in Berlin war es das Ziel meiner Projektarbeit im Rahmen des berufsbegleitenden Masterstudiums „Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession“, die Annahme zu überprüfen, dass auch dieses Handlungsfeld rassistisch strukturiert ist. So ging ich im Rahmen einer explorativen Studie meiner Hypothese nach, dass in der sogenannten niedrigschwelligen Wohnungslosenhilfe das soziale Problem der rassistischen Diskriminierung existiert. Dazu konzentrierte ich mich auf die Perspektive der potenziell von Rassismus betroffenen Menschen. Wenngleich nicht unmittelbar von Rassismuserfahrungen auf rassistisch diskriminierendes Handeln geschlossen werden kann, können diese jedoch Hinweise auf ein solches geben. Deshalb sollten sie unbedingt in eine umfassende Problembeschreibung integriert werden. Nicht zuletzt sollte damit auch der Perspektive der meiner Erfahrung nach besonders häufig ausgegrenzten Menschen innerhalb dieses Handlungsfeldes Gehör verschafft werden.

Die Projektarbeit im Rahmen des Masterstudiums „Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession“ ist die Umsetzung der Sozialarbeitswissenschaftstheorie des systemtheoretischen Paradigmas Sozialer Arbeit (SPSA) an einem konkreten Beispiel. Insbesondere orientiert sie sich an der allgemeinen normativen Handlungstheorie, umgangssprachlich auch „W-Fragen“ genannt. Damit ist sie klar strukturiert und unterscheidet sich zum Teil deutlich von anderen Projekten. In meiner Projektarbeit unter der Überschrift „‚Die Polen essen uns die Suppe weg!‘ - Rassismuserfahrungen obdachloser Menschen aus den neuen EU-Staaten in der Berliner Wohnungslosenhilfe. Eine Untersuchung in Einrichtungen der niedrigschwelligen Wohnungslosenhilfe Berlin“ ging es innerhalb dieser Struktur um die Anreicherung des bestehenden Beschreibungswissens, also um die Beantwortung der sogenannten WAS-Frage. Aufbauend auf theoretischen Grundlagen zu Rassismus und insbesondere der Ausprägung des Antislawismus (Beantwortung der „WARUM-Frage“) sowie in Bezug auf den aktuellen Forschungsstand, wählte ich ein quantitatives Verfahren mit einem (teil-)standardisierten Fragebogen. Dieser wurde ins Polnische, Russische, Lettische und Litauische übersetzt. Weitere Sprachen waren aufgrund der begrenzten Ressourcen nicht möglich. Die face-to-face-Befragung fand per einfacher Zufallsstichprobe in sechs verschiedenen Einrichtungen der sogenannten niedrigschwelligen Wohnungslosenhilfe Berlin statt. Hierbei unterstützten mich eine polnische und eine russische Muttersprachlerin. Nach Bereinigung der Daten wertete ich 34 Fragebögen aus. Hierbei ging es darum, Tendenzaussagen zu unterschiedlichen Aspekten des Problems zu formulieren. So wurde meine erste Forschungshypothese auf Grundlage der vorhandenen Daten bestätigt: Klient_innen aus den neuen EU-Staaten machen in der sogenannten niedrigschwelligen Wohnungslosenhilfe Erfahrungen rassistischer Diskriminierung. Als zweites Ergebnis fand ich heraus, dass Rassismuserfahrungen tendenziell eher selten kommuniziert werden. Darüber hinaus wurde deutlich, dass als deutsch gelesene Mitarbeiter_innen als Hauptakteur_innen rassistisch diskriminierenden Verhaltens identifiziert werden. Als überraschendes Ergebnis stellte sich schließlich heraus, dass Rassismuserfahrungen in Interaktion mit Mitarbeiter_innen der Einrichtung besonders häufig dann gemacht werden, wenn diese ohne kollegiale Zeug_innen handelten. Ein weiterer Erkenntnisgewinn waren neue Fragestellungen, die aus den Ergebnissen abgeleitet werden können. Hierbei handelt es sich in erster Linie um Fragestellungen, die mithilfe qualitativer Forschungsmethoden bearbeitet werden müssen.

Aufbauend auf diesen Tendenzaussagen der Beschreibung des sozialen Problems rassistischer Diskriminierung in Einrichtungen der sogenannten niedrigschwelligen Wohnungslosenhilfe und in Berücksichtigung menschenrechtlicher Normen von Nicht-Diskriminierung können in der Folge Interventionen durch die Soziale Arbeit angedacht werden. Diese müssen aufgrund der Mehrdimensionalität des Problems auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen: in der Einrichtung vor Ort sowohl bei den Strukturen der Einrichtung als auch bei den Mitarbeiter_innen und Nutzer_innen und darüber hinaus überregional in der Initiierung und/oder Veränderung des Diskurses um Migration und Exklusionsprozesse.

Im Anschluss an die offizielle Projektphase im Rahmen des Studiums veröffentlichte ich meine Erkenntnisse verschiedentlich und brachte sie in den Fachdiskurs ein. Hierbei ergaben sich wichtige Lernerfahrungen für mich, bspw. im Hinblick auf meine Formulierungen. Zum Teil hatte ich den Eindruck, als beträte ich ein sprachliches Minenfeld: Manche Praktiker_innen schienen sich bei der Vorstellung meiner Ergebnisse persönlich angesprochen und angegriffen zu fühlen und versuchten, immer wieder deutlich zu machen: „Wir sind doch keine Rassisten!“ So wurden durch die Projektergebnisse nicht nur die Befragten, sondern auch später die Mitarbeiter_innen, die sich darauf einließen, wie auch ich selbst zum selbstkritischen Nachdenken angeregt. Noch heute werde ich auf die Veröffentlichung einer Projektzusammenfassung in der Fachzeitschrift „wohnungslos“ angesprochen. Ein erster Interventionsschritt ist erreicht.

Marie-Therese Reichenbach
Absolventin des Masterstudiums Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession

 

Projekte zum Thema Menschenrechte, Rassismus und Armut:

ArmutsBlog.de von Prof. Dr. Susanne Gerull

Women's Homelessness in Europe Network und Landesarmutskonferenz Berlinunter Mitwirkung von Prof. Dr. Susanne Gerull

Das Studierendenprojekt Armutszeugnisse der ASH Berlin.

 

Publikationen

Wege aus der Wohnungslosigkeit von Prof. Dr. Susanne Gerull

European Journal of Homelessness unter Mitwirkung von Prof. Dr. Susanne Gerull