alice online: Herr Kaya, könnten Sie sich bitte kurz vorstellen?
Kaya: Ich bin türkischer Wissenschaftler und befasse mich mit der jüngeren türkischen Geschichte und Stadtsoziologie. Als Dozent in Istanbul unterzeichnete ich als einer von 2.212 Wissenschaftlern aus 89 türkischen Universitäten, die sich den Namen „Akademiker für den Frieden“ gegeben hatten, eine Friedenspetition mit dem Titel „Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein”. In dieser Petition kritisieren wir die groben Menschenrechtsverletzungen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdischen Gebieten der Türkei und fordern ein Ende der militärischen Operationen und die Rückkehr zum Friedensprozess.
Doch als Reaktion auf die Friedenspetition übte die türkische Regierung starken politischen Druck auf die „Akademiker für den Frieden“ in unterschiedlichster Form aus. Mehr als 400 Akademiker, die die Friedenspetition unterzeichnet hatten, wurden im letzten Jahr an den Universitäten entlassen. Ich war einer davon. Außerdem wurde ich im März und April 2016 mit drei meiner Kollegen für 40 Tage in Haft genommen. Uns wurde vorgeworfen, mit der Friedenspetition „terroristische Propaganda“ zu betreiben.
Nach der Haftentlassung suchte ich eine neue Arbeitsstelle, konnte aber keine finden, weil ich wie andere unterzeichnende Akademiker in der Türkei auf der schwarzen Liste stand. Um also meinen Beruf weiter ausüben zu können, musste ich ins Ausland gehen. Im Oktober 2016 kam ich nach Berlin, wo ich momentan als Gastwissenschaftler an der Alice Salomon Hochschule tätig bin. Diese Postdoktorandenstelle wird von der Rosa-Luxemburg-Stiftung vergeben.
„Es ist unerlässlich, wirksame solidarische Bindungen unter den demokratischen Kräften weltweit zu schaffen.“
alice online: Wie sind die jüngsten Entwicklungen in der Türkei, insbesondere im Hochschulwesen, zu verstehen?
Kaya: Die politische Lage ist derzeit sehr kompliziert. Präsident Erdoğan möchte eine Einmann-Diktatur errichten und leider konnte er fast die Hälfte der türkischen Gesellschaft für sich gewinnen. Die aktuellen Entwicklungen in der Türkei kann man wohl als Aufstieg des Neofaschismus im 21. Jahrhundert bezeichnen. Es gibt aber auch starken demokratischen Widerstand in der Türkei. Die demokratischen Kräfte Europas sollten den antifaschistischen Widerstand in der Türkei unterstützen, denn dies hat auch zwangsläufig Folgen für europäische Gesellschaften. Die derzeitigen Tendenzen lassen sich sicherlich nicht nur in der Türkei finden. Der Aufstieg des Neofaschismus ist weltweit, auch in Europa, erkennbar. Deshalb ist es unerlässlich, wirksame solidarische Bindungen unter den demokratischen Kräften weltweit zu schaffen.Was das Hochschulwesen in der Türkei anbelangt, so sollten wir uns das althusserianische Konzept des „ideologischen Staatsapparats“ vor Augen führen. Auch wenn die Hochschulen demokratisches Potenzial in sich tragen, sind sie der ideologische Apparat des Staates „in letzter Instanz“. Soll also das politische System eines Landes geändert werden, muss zuerst eine Umstrukturierung des Bildungssystems erfolgen. Was wir zurzeit in der Türkei erleben, ist genau das. Erdoğan möchte einen Systemwechsel in der Türkei erreichen. Deshalb baut er momentan das gesamte Bildungssystem, einschließlich Hochschulen, so um, dass es den Anforderungen des neuen, im Aufbau befindlichen Systems gerecht wird. Und Hauptresultat dieser Umstrukturierung ist die Entlassung von demokratischen und linksgerichteten Wissenschaftlern an türkischen Universitäten.
alice online: Könnten Sie uns etwas von Ihren letzten Forschungsprojekten erzählen?
Kaya: Ich forsche und schreibe umfassend über Satellitenstädte und städtische Randgebiete, soziale Bewegungen und ethno-religiöse Unzufriedenheit in heutigen Städten. Ich verfüge über eine interdisziplinäre Ausbildung in den Bereichen Soziologie, Geschichte und Politikwissenschaft. Mit meiner Forschungsarbeit möchte ich zur vergleichenden Forschung über urbane und soziale Ungleichheit, das Recht auf Stadt und soziale Gerechtigkeit beitragen.
alice online: Woran arbeiten Sie derzeit hier in Deutschland?
Kaya: Aktuell arbeite ich an der ASH Berlin mit Professorin Esra Erdem an einem Projekt über die Kommunalwirtschaft in der Türkei. Mein Schwerpunkt liegt vor allem auf nichtkapitalistischen, alternativen Wirtschaftsorganisationen wie Genossenschaften. Den theoretischen Rahmen für dieses Projekt bildet das Konzept der sogenannten „diverse economies“ laut J. K. Gibson-Graham. Wir analysieren dabei, wie Wirtschaftsaktivitäten auf lokaler Ebene zu sozialer Gleichheit und Befähigung beitragen. In diesem Zusammenhang wird der Begriff „Wirtschaft“ auch neu bewertet.
Die Diskussionen und Gepflogenheiten, die sich innerhalb der kurdischen Bewegung in der Türkei entwickelten, erweisen sich als eine besonders wertvolle Fallstudie, um das Konzept der Kommunalwirtschaft zu beleuchten. Das politische Projekt einer „demokratischen Autonomie“, die die kurdische Bewegung in der Türkei bereithält, beruht auf der Vorstellung von nichtkommerzialisierten Wirtschaftsbereichen auf kommunaler Ebene, die als Alternative zu marktorientierten Wirtschaftsbeziehungen zum Tragen kommen. Durch die Analyse des kurdischen Beispiels möchte mein Projekt über die wirtschaftlichen, soziokulturellen und politischen Bedingungen Aufschluss geben, die das Entstehen dieser postkapitalistischen Initiativen möglich machen. Die Auseinandersetzung mit dem alternativen Wirtschaftsprogramm der kurdischen Bewegung und den damit verbundenen bahnbrechenden Experimenten gewährt sicherlich weitreichende Einblicke in die Möglichkeiten und Schwierigkeiten, die diese alternativen Wirtschaftsmodelle mit sich bringen.
Interview in English:
“Democratic forces of Europe should support anti-fascist resistance in Turkey”
An interview with visiting research fellow Muzaffer Kaya about the recent developments in Turkey and his research projects
alice online: Can you please briefly introduce yourself?
Kaya: I am a scholar from Turkey, studying on modern Turkish history and urban sociology. When I was an assistant professor in Istanbul, I signed a peace petition named “We will not be a party to this crime,” which has been signed by 2212 scholars from 89 universities of Turkey who called themselves “Academics for Peace”. In this petition, we criticize the gross human rights violations of the Turkish security forces in the Kurdish regions of Turkey and demand an end to the military operations and return to the peace process.
However, the response of the Turkish government to the peace petition was to put a heavy political pressure on the “Academics for Peace” in different ways. More than 400 academics who signed the peace petition were dismissed from universities in the last year. I was one of them. I was also jailed for 40 days with three of my colleagues in March and April 2016. We were charged with making “terrorist propaganda” in our peace petition.
After being released from prison, I searched for a new job, but I couldn’t find any because I was on the “black list” like other signatory academics in Turkey. Thus, to continue my profession I had to go abroad. In October 2016, I came to Berlin and I am currently holding a position as visiting research fellow at the Alice Salomon University of Applied Sciences. This is a post-doctoral position awarded by the Rosa Luxemburg Foundation.
“There is a strong need to establish effective solidarity links among the democratic forces of the world.”
alice online: How can we understand the recent developments in Turkey, especially in higher education?
Kaya: The political situation is highly complicated now. Erdoğan aims to establish a one-man dictatorship, unfortunately he has succeeded in gaining support of almost half of the Turkish society. I think in the Turkish context, we should describe the current developments as the rise of neo-fascism in 21. Century. There is also a strong democratic resistance in Turkey. Democratic forces of Europe should support anti-fascist resistance in Turkey, since it has also inevitable effects on European societies. I think these developments are not peculiar to Turkey. It is not hard to see the rise of neo-fascisms all over the world, including Europe. Hence, there is a strong need to establish effective solidarity links among the democratic forces in the world.
As for the higher education in Turkey, we should remember the Althusserian concept of the “ideological apparatus of the state”. Even though the democratic potential is inherint in them, universities are the ideological apparatus of the state “at the last instance”, so if your aim is to change the political regime of a country, you need to restructure the educational system first. What we are currently experiencing in Turkey is exactly that. Erdoğan aims to achieve a regime change in Turkey. Therefore, he is now restructuring the entire education system including universities according to the needs of new the regime which is in the making. And the main result of this restructuring is the liquidation of democratic and leftist scholars from Turkish universities.
alice online: Could you please tell us about your past research projects?
Kaya: I have researched and written extensively on satellite cities and urban outskirts, social movements and ethno-religious discontent in contemporary cities. I have an interdisciplinary training in sociology, history and political science. In my research I strive to contribute to comparative research on urban and social inequality, the right to the city and social justice.
alice online: What are you currently working on here in Germany?
Kaya: Currently, I am working on a project about community economies in Turkey with professor Esra Erdem at ASH Berlin. My focus is especially on non-capitalist, alternative economic organizations such as cooperatives. The theoretical framework of this project is based on J. K. Gibson-Graham’s concept of “diverse economies”. Our project analyzes how grassroots economic practices contribute to social equality and empowerment. In this respect the concept of “economy” will also be re-evaluated. The discussions and practices that emerged within the framework of the Kurdish movement in Turkey presents a particularly valuable case study to understand this concept of community economies. The political project of “democratic autonomy” offered by the Kurdish political movement in Turkey is based on the idea of non-commercialized, community-based economic fields as an alternative to market-based economic relations. By analyzing the Kurdish case, my project aims to shed light on the economic, socio-cultural and political conditions which make the emergence of such post-capitalist initiatives possible. Dealing with the alternative economy program of the Kurdish movement and its avantgarde experiments from this perspective appears as immensely instructive to understand the potentials and difficulties these alternative economic models present.