Die bürgerliche Frauenbewegung des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat in Deutschland wesentlich zur Entwicklung und Etablierung Sozialer Arbeit als (Frauen-)Beruf beigetragen, mit einer beachtlichen Personalunion zwischen den Führungspositionen der Frauenbewegung und denen der Sozialen Arbeit. Es wurden Ausbildungsstätten gegründet, Lehrbücher und Methoden entwickelt. Ein Projekt des Alice Salomon Archivs, gefördert von Februar 2018 bis März 2019 durch das Digitale Deutsche Frauenarchiv (DDF) mit Mitteln des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), hat sich anhand eines historischen Fotoalbums und von Archivmaterialien der von Alice Salomon gegründeten Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit mit diesem zentralen Teil der Geschichte der Frauenbewegung beschäftigt. Ziel des Projekts war es, die Bedeutung der historischen Sozialen Arbeit in der bürgerlichen Frauenbewegung und von deren Akteurinnen, und damit letztlich die Entwicklung der Sozialen Arbeit als (Frauen-)Beruf, sichtbar zu machen.
Ein Fotoalbum über die Frauengeschichte der Sozialen Arbeit von 1929
Im ersten Teil des Projekts wurde ein umfangreiches und einzigartiges Fotoalbum (Abb. 1) mit wichtigen Persönlichkeiten der Sozialen Arbeit, persönlichen Widmungen und Darstellungen von Ausbildungssituationen vor dem Verfall gerettet und der Öffentlichkeit analog im Alice Salomon Archiv und digital auf dem Portal des Digitalen Deutschen Frauenarchivs zugänglich gemacht. Das Fotoalbum mit 41 Abbildungen erzählt die Geschichte der Sozialen Arbeit seit ihren Anfängen um 1900, als die Soziale Arbeit von Frauen in Verbindung mit der Frauenbewegung entwickelt wurde. Alice Salomon[i], Gründerin der Sozialen Frauenschule, erhielt es 1929 von ihrer Kollegin Siddy Wronsky[ii] geschenkt. Anlass war das dreißigjährige Jubiläum der beruflichen Ausbildung in der Wohlfahrtspflege, welche im Jahre 1899 zum ersten Mal mit dem Jahreskurs der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit[iii] in Berlin durchgeführt wurde. Das Album zeigt Persönlichkeiten aus der Sozialen Frauenschule, wie Alice Salomon selbst (Abb. 2), Frieda Duensing, Albert Levy, Lilly Droescher, Charlotte Dietrich, Margarete Berent und Siddy Wronsky (Abb. 3), sowie angegliederte Ausbildungseinrichtungen. Es handelt sich hierbei um ein authentisches Zeugnis über die Anfänge der Sozialen Arbeit, das aus dem kaum erhaltenen Besitz von Alice Salomon stammt.
Das Fotoalbum besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil zeigt die von Alice Salomon 1908 gegründete Soziale Frauenschule sowie Schülerinnen und Dozentinnen im Alltag und in ihrer Freizeit (Abb. 4). Der zweite Teil dokumentiert die Ausbildungseinrichtungen der Wohlfahrtspflege, wie die Zentrale für private Fürsorge, das Archiv für Wohlfahrtspflege (Abb. 5), den Verein Jugendheim Charlottenburg, die Wohlfahrtsstelle des Landesjugendamtes im Polizeipräsidium Berlin oder den ersten Klub für junge Arbeiterinnen (Abb. 6), der 1898 in Berlin gegründet worden ist. Zu den Fotografien wurden kurze Beschreibungen der Einrichtungen verfasst. Das Album schafft für Interessierte einen einfachen wie ansprechenden bildlichen Einstieg in die Anfänge der Sozialen Arbeit, mit Blick auf wichtige Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung, und bietet für vertiefende Forschungen Visualisierungen und inhaltliche Anknüpfungspunkte zu Personen und Institutionen. Das Fotoalbum wurde digitalisiert und fotokopiert für die weitere Nutzung, das Original wird nur noch in Ausnahmefällen, wie Ausstellungen, genutzt.
Zur Vertiefung der im Fotoalbum zugänglich gemachten visuellen Blicke auf Personen und Institutionen wurden im Rahmen des Projektes ausführliche bild- und dokumentenreiche Essays erstellt, die im DDF-Portal online abrufbar sind. Die Themen- und Personenessays liefern wichtige historische Bausteine einer gemeinsamen Geschichte von Sozialer Arbeit als (Frauen-)Beruf und bürgerlicher Frauenbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Zu finden sind hier Themen- und Personenessays zum Beitrag der bürgerlichen Frauenbewegung zur Entwicklung der Sozialen Arbeit, zu den Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit (1893–1933), zu Alice Salomon (1872–1948), Siddy Wronsky (1883–1947) und Charlotte Dietrich (1887–1976).
Die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit
Im Fokus des zweiten Teils des Projekts standen die Akten der Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit[iv], einer lange Zeit in Vergessenheit geratenen Weiterbildungsakademie (Abb. 7) und Forschungseinrichtung für Frauen in sozialen Berufen und Wirkungskreis bedeutender Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung. Alice Salomon gründete 1925 die Akademie, unterstützt durch bedeutsame Persönlichkeiten der Wohlfahrtspflege wie Marie Baum, Gertrud Bäumer, Hildegard von Gierke, Helene Weber, Siddy Wronsky, Eduard Spranger und Hans Muthesius. Die Akademie war eine der ersten Bildungsinstitutionen mit dem Charakter einer Einrichtung auf Hochschulniveau von Frauen für Frauen zur Weiterqualifikation innerhalb der Sozialen Arbeit. Geleitet wurde die Einrichtung von Alice Salomon als Vorsitzende des Vorstands, ab 1928 zusammen mit Hilde Lion. Der offizielle Lehrbetrieb begann im Oktober des Gründungsjahres in den Räumen der Sozialen Frauenschule in Berlin-Schöneberg mit 10 Kursen und insgesamt 358 Teilnehmerinnen, dazu zählten Jugendleiterinnen, Berufs- und Fachschullehrerinnen, Wohlfahrtspflegerinnen usw. 1926 wurde der Akademie eine Forschungsabteilung[v] angegliedert und 1928 unter der Leitung von Alice Salomon und Marie Baum das breit angelegte sozialwissenschaftliche Forschungsprogramm zu „Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart“ gestartet (Abb. 8). Von 1930 bis 1933 erschienen 13 von geplanten 27 Monografien, diese Bände sind heute wichtige Dokumente über die Familie in Deutschland unmittelbar vor der nationalsozialistischen Herrschaft.
Am 5. Mai 1933 löste Alice Salomon auf einer geheimen Vorstandssitzung die Akademie auf, um sie vor dem Zugriff der Nazis zu retten sowie die jüdischen Mitarbeiterinnen zu schützen. Am Beispiel der Akademie wird erkennbar, was Frauen in der frühen sozialwissenschaftlichen Forschung und akademischen Weiterbildung geleistet haben und welchen Einfluss sie gesellschaftlich, wissenschaftlich und politisch in ihrer Zeit hatten. Verdeutlicht wird außerdem am konkreten Beispiel, was der Nationalsozialismus mit seiner Ausgrenzung von Personen und Personenkreisen für gesellschaftliche Folgen hatte.
Die erhaltenen Akten der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit wurden vollständig digitalisiert, um sie über das DDF-Portal der Forschung und Interessierten zur Verfügung stellen zu können. Ergänzend wurden themen- und personenspezifische Essays auf Grundlage der Akademie-Akten für das DDF-Portal erstellt, um die Bedeutung der akademischen Sozialen Arbeit sowie der frühen sozialwissenschaftlichen Frauenforschung innerhalb der Frauenbewegung zu verdeutlichen und digital in Texten und einer Vielzahl von Bilddokumenten zugänglich zu machen. Zu finden sind Essays über die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit und ihre Vertreterinnen (1925–1933), zu den Familienforschungen der Akademie (1928–1933), zu Marie Baum (1874–1964), Hilde Lion (1893–1970), Margarete Meusel (1897–1953) und Hildegard von Gierke (1880–1966).
Der Onlinegang des Digitalen Deutschen Frauenarchivs im September 2018
Am 13.09.2018 ging das Digitale Deutsche Frauenarchiv im Rahmen eines Festaktes an der Humboldt Universität zu Berlin online (www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de) und hier nahmen das analoge wie das digitalisierte Fotoalbum von Alice Salomon eine zentrale Rolle ein. Bundesministerin Dr. Franziska Giffey präsentierte das originale Album, um mit diesem Dokument die Chancen und Möglichkeiten des Digitalen Deutschen Frauenarchivs anschaulich aufzuzeigen. Sie hob dabei die Bedeutung von Alice Salomon für die Entwicklung der Sozialen Arbeit im Hinblick auf die bürgerliche Frauenbewegung hervor und verdeutlichte die Notwendigkeit aktueller Digitalisierungen. Unbewusst verdeutlichte sie dabei auch die Gefährdung historischer Archivmaterialien im öffentlichen Umgang: Als das historische Fotoalbum wieder sicher verstaut in der speziellen Archivkiste lag, ohne dass Seiten sich gelöst hatten, atmeten nicht nur die Mitarbeiterinnen des Alice Salomon Archivs sichtbar auf. Das Fotoalbum steht jetzt im DDF-Portal allen Interessierten digital zur Verfügung.
Kontakt
Prof. Dr. Sabine Toppe
Professorin für Geschichte der Sozialen Arbeit und Wissenschaftliche Leiterin des Alice Salomon Archivs der ASH Berlin
Fachbereich Soziale ArbeitEmail: toppe@ ash-berlin.eu
Tel.: 0049 (0) 30 992 45-517
[i] www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/alice-salomon
[ii] www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/siddy-sidonie-wronsky
[iii] www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/maedchen-und-frauengruppen-fuer-soziale-hilfsarbeit-1893-1933
[iv] www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/deutsche-akademie-fuer-soziale-und-paedagogische-frauenarbeit
[v] Toppe, Sabine: „Auflösung und Fortbestand der Institution Familie“: Historische Forschungen und aktuelle Legitimationen im Spannungsfeld von Privatheit und Öffentlichkeit, in: Bütow, Birgit u. a. (Hrsg.): Sozialpädagogik zwischen Staat und Familie – Alte und neue Politiken des Eingreifens, Opladen, Berlin, Toronto 2014, S. 29–47