Forschung „Das hätte es früher nicht gegeben“

Ein europäisches Forschungsprojekt zu Verbreitung und Qualitätsentwicklung tiergestützter Interventionen untersucht und vergleicht die Situationen in Seniorenheimen

Hundebesuch im Seniorenheim. Foto: Leben mit Tieren e.V.
Hundebesuch im Seniorenheim. Foto: Leben mit Tieren e.V.

Als eine Ehrenamtliche von Leben mit Tieren e. V. mit ihrer Hündin zu Besuch in einer Senioreneinrichtung ist, kommt eine alte Dame sofort freudig lächelnd auf sie zu, zeigt auf die Hündin und sagt: „Das hätte es früher nicht gegeben“. Und das stimmt: Tiergestützte Interventionen finden erst in den letzten Jahren immer mehr Verbreitung in verschiedensten psychosozialen Arbeitsfeldern. Besonders häufig werden dabei Hunde in die Arbeit mit älteren Menschen in stationären Einrichtungen einbezogen. Die Zahl der Projekte wächst hier rasant, ein systematischer Überblick zur Situation in Deutschland wie anderen europäischen Ländern fehlt aber bislang und es bleiben noch viele Fragen offen: Wie arbeiten Mensch-Hund-Teams konkret in Seniorenheimen in verschiedenen Ländern? Wie werden Hund und Halter_in auf den Einsatz vorbereitet? Welche Unterschiede gibt es in den organisatorischen und rechtlichen Rahmenbedingungen und den Qualitätsstandards? Diese und weitere Fragen sollen im Forschungsprojekt „Human Animal Interaction (HAI) with dogs in retirement homes in Europe“ (Laufzeit: Nov/2017 bis Nov/2018) beantwortet werden. In dem vom CNSA (Caisse nationale de solidarité pour l’autonomie) geförderten Projekt arbeitet ein Netzwerk europäischer Forscher_innen und Praxispartner_innen (aus Frankreich, Italien, den Niederlanden und Deutschland; Projektleitung: Dr. Didier Vernay, Centre Hospitalier Universitaire de Clermont-Ferrand) zusammen, um den Stand tiergestützter Praxis in Seniorenheimen in den verschiedenen Partnerländern vergleichend zu untersuchen.

In mehreren Gruppendiskussionen und Workshops in Kunheim und Clermont-Ferrand (Frankreich), Legnaro (Italien), Nijmegen (Niederlande) und Berlin (Deutschland) werden die jeweiligen nationalen rechtlichen Rahmenbedingungen und die Verbreitung tiergestützter Arbeit sowie Standards der Ausbildung und Qualitätssicherung präsentiert und diskutiert. Zudem werden während Hospitationen in Seniorenheimen, in denen hundegestützt gearbeitet wird, in allen Partnerländern Felddaten erhoben und vergleichend ausgewertet. In einem letzten Schritt sollen hieraus Best Practice-Beispiele und Vorschläge zur Verbesserung sowie zur Harmonisierung der verschiedenen Praktiken und Standards erarbeitet und in einem „White Book“ veröffentlicht werden.

Im deutschen Team ist neben Prof. Dr. Sandra Wesenberg (ASH Berlin) und Prof. Dr. Frank Nestmann (TU Dresden) der Berliner Verein Leben mit Tieren e. V. als Praxispartner maßgeblich beteiligt. Der Verein nimmt in der Entwicklung tiergestützter Arbeit in Deutschland eine Pionierrolle ein. Seit fast 30 Jahren organisiert Leben mit Tieren e. V. in Berlin und Umgebung ehrenamtliche, hundegestützte Besuchsdienste in sozialen Einrichtungen und engagiert sich zudem für die wissenschaftliche Fundierung und Qualitätssicherung tiergestützter Interventionen.

Am 25. und 26. Juni 2018 fand ein Meeting mit zwei französischen Kooperationspartner_innen in Berlin statt. Über Fachvorträge, Diskussionsrunden und Hospitationen haben Mélie Daverède (Groupe de Ressources et d’Accompagnements par des Médiations et la Médiation Animale, GRAMMA, Ibos) und Cécile Cardon (Coach professionnel/ Intervenante en Médiation Animale, Clermont-Ferrrand) den Stand tiergestützter Arbeit in Deutschland allgemein und im Besonderen in der stationären Altenhilfe kennengelernt. Unter anderem haben sie von Annett Eckloff (Zentrum für Weiterbildung der ASH Berlin) einen interessanten Einblick in den ASH-Zertifikatskurs „Tiergestützt und tiergeschützt“ erhalten, der von der International Society for Animal Assisted Therapy (ISAAT) zertifiziert und akkreditiert ist. Außerdem hat die Projektgruppe bei einer Verhaltenseinschätzung zur Eignung als Besuchsbegleithund bei Leben mit Tieren e. V. hospitiert. In einem standardisierten Testverfahren hat Elena Kaschubat-Dieudonné (Veterinärmedizinerin mit Zusatzbezeichnung Tierverhaltenstherapie und Hundetrainerin) ein Mensch-Hund-Team, das zukünftig für den Verein in den tiergestützten Einsatz gehen will, auf die Probe gestellt. Während des Meetings konnten die Teilnehmer_innen noch weitere ganz ‚praktische‘ Eindrücke der tiergestützten Arbeit in Deutschland sammeln: Die Forscher_innen wurden in eine Besuchsstunde in ein Seniorenheim in Teltow eingeladen, um sich selbst ein Bild von der Arbeit des Mensch-Hund-Teams und den Reaktionen der Bewohner_innen zu machen.

Mélie Daverède und Cécile Cardon waren von der Arbeit des Vereins sehr beeindruckt. Sie kamen zum Fazit: „Wie in Frankreich auch, existieren in diesem Bereich bislang kaum verbindliche Regelungen. Es gibt daher eine Vielfalt von Praktiken ganz unterschiedlicher Qualität. Erst durch Ausbildungsmaßnahmen wie an der ASH Berlin oder durch das konsequente Engagement von Organisationen wie Leben mit Tieren e. V., die sich für den Tierschutz einsetzen, können sich tiergestützte Interventionen positiv weiterentwickeln“.

 

Der Zertifikatskurs „Tiergestützt und tiergeschützt“ wird regelmäßig an der ASH Berlin angeboten. Für Rückfragen können Sie sich an Annett Eckloff (eckloff@ avoid-unrequested-mailsash-berlin.eu) wenden.

(Dieser Beitrag erschien erstmals in der alice 36 im Wintersemester 2018/19.)