Lesestoff Das Alter ist bunt

Interview mit Ralf Lottmann über das gerade erschienene, erste Lehrbuch zu LSBTIQ* und Alter(n)

Worum geht es in „ LSBTIQ* und Alter(n). Ein Lehrbuch für Pflege und Soziale Arbeit"?

Lottmann: „Das Alter(n) hat viele Gesichter" – das haben die Alternsforschenden Margret und Paul Baltes schon vor 30 Jahren gesagt. Aus der Sicht von uns Herausgeber_innen blieb eine diversitätssensible Forschung und Praxis in der Gerontologie, der Sozialen Arbeit und der Pflege jedoch weitgehend aus. Die Situation von älter werdenden Lesben, Schwulen, Bisexuellen und von trans* und inter* Personen wird – bis heute – auch von öffentlich geförderten Surveys und Instituten oftmals ausgeblendet und deren Erfahrungen und Perspektiven damit übersehen. Gerade in der Lebensphase Alter, in der die Abhängigkeit von Dritten steigt, hat der Wohlfahrtsstaat, haben Regeldienste der Altenhilfe eine besondere Verantwortung und sind aufgefordert, eine inklusive Versorgung zu ermöglichen. Wir wollen mit dem Buch daher auf die vielfältigen Lebenslagen, Biografien und Erfahrungen von Menschen hinweisen und für deren Lebenswelten sensibilisieren. Das Lehrbuch will den Slogan „Das Alter ist bunt“ für Lehre und Praxis ein wenig mit Leben füllen.

Können Sie ein konkretes Praxisbeispiel aus dem Buch nennen?

Lottmann: Das ist schwer, eines rauszuziehen. Ich denke zum Beispiel an die im Buch portraitierten Fallbeispiele Pauline B. oder Egon K., die aufgrund der gesellschaftlich starken Repressionen gegenüber Homosexuellen in ihrem Jugend- und Erwachsenenalter und dem Erlebten ganz erhebliche Ängste vor einem Coming-Out in Einrichtungen der Altenhilfe haben. Pauline B. erfuhr glücklicherweise Unterstützung durch einen offen lebenden Pflegeschüler. Egon K. leidet unter seiner Kriminalisierung, erlebter antihomosexeller Gewalt als Jugendlicher und der Ablehnung durch die Eltern bis ins hohe Alter und beschließt auch im Heim im Verborgenen zu bleiben. Oder Karin K., die mit 60 Jahren eine genitalangleichende Operation beantragt und mit einem Gutachter der Krankenkassen sehr negative Erfahrungen erleben muss. Wir gehen in jedem Kapitel der Frage nach, wie Bedürfnisse und Belange älterer und alter LSBTIQ*-Senior_innen in der Arbeit mit alten Menschen berücksichtigt werden können. Nicht immer hat die sexuelle oder geschlechtliche Identität für Menschen die entscheidende Relevanz für das Wohlbefinden im Alter, doch das „Anderssein", die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, Zurückweisungen in der Biografie, die sozialen und gesundheitlichen Lebenslagen etwa als lesbische Seniorin oder eine Infektion mit dem HI-Virus in den 1980/1990er Jahren hinterlassen Spuren und beeinflussen das Leben von LSBTIQ*-Personen ein Leben lang. Das darf meines Erachtens aber eine gute Betreuungs- oder Pflegequalität, eine gute Angehörigenarbeit und die Chance auf soziale Teilhabe im Alter nicht beeinträchtigen. Wir beobachten im Alltag in der offenen, ambulanten und stationären Altenhilfe aber immer wieder Defizite – meist bedingt durch heteronormative Praxen z.B. in somatisch ausgerichteten Regeldiensten. Hier wollen wir irritieren mit dem Buch und auch für eine personenzentrierte Altenhilfe für alle einen Beitrag leisten.

„Das Lehrbuch bietet durch Stimmen von Praktiker_innen und Aktivist_innen ein gezielt praxisbezogenes Wissen zu den vielfältigen LSBTIQ* Gruppen, mit denen auch in der Lehre und Praxis kooperiert werden könnte."

 

An wen richtet sich das Buch?

Lottmann: Das Personal in der Sozialen Arbeit sowie in der Pflege benötigt aus unserer Sicht generell Kompetenzen in Bezug auf Bedarfe, Lebenswelten und über den Lebensverlauf gemachte Erfahrungen von LSBTIQ*-Senior_innen. Wir wollen zum Austausch anregen und – insbesondere auch heterosexuelle – Lehrende z.B. in den Altenpflegeschulen ermuntern, das Thema aufzugreifen – aber auch Kolleg_innen in den Hochschulen für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege. Wir hoffen, das Lehrbuch gibt einen Anstoß dazu und erleichtert eine kompetente und diversitätssensible Lehre und Praxis in der Arbeit mit älteren Menschen. Das Lehrbuch bietet durch Stimmen von Praktiker_innen und Aktivist_innen ein gezielt praxisbezogenes Wissen zu den vielfältigen LSBTIQ* Gruppen, mit denen auch in der Lehre und Praxis kooperiert werden könnte.

Wie kam es zu der Buchidee?

Lottmann: In 2017 habe ich in einem Vortrag zum Forschungsprojekt "Gleichgeschlechtliche Lebensweisen und Pflege im Alter" die Ergebnisse unserer Forschung an der ASH Berlin vorstellen dürfen – auf einem Gerontologie-Kongress in Fulda. Direkt danach haben wir vier Herausgeber_innen (Tamara-Louise Zeyen , Mechthild Kiegelmann, Regina Brunnett und ich) uns zum ersten Mal getroffen, uns spontan angeregt über das Thema unterhalten und gemeinsam befunden, dass es endlich ein Lehrbuch dazu geben müsse. Wir haben – aus den unterschiedlichsten Ecken – die Nachfrage gespürt und Rückmeldungen aus der Praxis haben uns dann ermuntert, das Unterfangen in Angriff zu nehmen. Wir haben dann mehrere tolle und erfahrene Autor_innen angefragt und oft direkte Zusagen für das Buch erhalten, weil auch ihnen der Bedarf sofort einleuchtete. Ja, so kam das – es war dann doch mehr Arbeit als ich gedacht hatte. Aber wir sind jetzt sehr froh, dass wir mit Hilfe des Verlags ein schönes erstes Lehrbuch zu LSBTIQ* und Alter(n) veröffentlichen konnten.

 

LSBTIQ* und Alter(n)
Ein Lehrbuch für Pflege und Soziale Arbeit

Tamara-Louise Zeyen (Hg.), Ralf Lottmann (Hg.), Regina Brunnett (Hg.), Mechthild Kiegelmann (Hg.)
Vandenhoeck & Ruprecht, 1. Auflage 2020 
232 Seiten, 23,99 €
ISBN: 978-3-525-70272-7