Im Frühjahr haben wir als interdisziplinär arbeitende Wissenschaftler_innen eine gemeinsame Stellungnahme zur Covid-19-Pandemie verfasst. Im Konzert der Stellungnahmen zur Krisenbearbeitung haben wir die Stimmen der sogenannten SAGE-Fächer (Soziale Arbeit, Gesundheit, Erziehung und Bildung) hörbar gemacht. Über 80 Mitzeichnende haben sich unserer Selbstverpflichtung angeschlossen „zusammenzuwirken und uns für die notwendigen Bedingungen [einer humaneren Daseinvorsorge] stark zu machen“.
Unsere Forderungen sind auch im Herbst, während des derzeitigen Teil-Lockdowns, aktuell. Wir laden Sie herzlich dazu ein, den ganzen Text nachzulesen und bilanzieren mit Hilfe von drei Beispielen, was sich heute noch klarer darstellt als im Frühjahr.
Was wir weiterhin fordern:
- Care-Arbeit aufwerten – der Ausbeutung nachhaltig begegnen
- Struktureller Benachteiligung von Frauen* entgegenwirken – geschlechtergerechte Politik umsetzen
- Gesundheitsfachberufe und Soziale Arbeit als zentrale Teile des Gesundheitssystems während und nach der Pandemie anerkennen
- Lebenswelt- und ressourcenorientierte Ansätze im öffentlichen Gesundheitsdienst konsequent und interdisziplinär verfolgen
- Unteilbar und solidarisch: Niemanden zurücklassen
- Bildung gerecht gestalten
- Kindeswohl gewährleisten - Familienfreundliche Umwelten durch öffentliche Infrastruktur (wieder-)herstellen
- Selbstbestimmte und gleichberechtige Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen jederzeit gewährleisten
- Menschen in existenziellen Armutslagen schützen
- Menschen mit Suchtverhalten auch unter Infektionsschutzbedingungen bedarfsgerecht beraten und begleiten
- Institutionelle Unterstützungsangebote mit verstärkten Schutzmaßnahmen aufrechterhalten
Als Auswirkung von Covid 19 beobachten wir in der Sozialen Arbeit eine neue Flexibilität - erstarrt geglaubte Dialoge zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern sind teilweise wieder in Gang gekommen. Zugleich werden prekäre Finanzierungsverhältnisse sichtbar, in deren Folge Kosten der Pandemie vergesellschaftet und letztlich an Nutzer_innen Sozialer Arbeit als letztes Glied in der Kette weitergereicht werden. So sollten beispielsweise 2021 bei Neuköllner Kinder-, Jugend- und Familienprojekten über 800.000 Euro vom Bezirk eingespart werden. Dies konnte durch rasche Kommunikation und Intervention durch Selbstvertretungen der Träger im Feld, die auch mit der ASH Berlin gut vernetzt sind, vorerst abgewendet werden.
In anderen Bereichen, z. B. der Wohnungsnotfallhilfe, hat sich dagegen nichts Existenzielles getan: Notübernachtungsplätze sind weiterhin reduziert, mancherorts werden infizierte Menschen ohne Hilfestellung auf die Straße verwiesen. Grundsätzlich fehlt hier, wie auch in anderen Arbeitsfeldern noch immer eine bundesweite Strategie, wie mit Covid-19-Ausbrüchen in Unterkünften, Kontakt- und Anlaufstellen umgegangen werden soll, ohne sie schließen bzw. die Bewohner_innen weiteren Gefährdungen oder Isolationen aussetzen zu müssen. Die Expertise von Betroffenen wird nach wie vor nicht in die Planungen einbezogen. Weiterhin wird spürbar, dass vielseitige Digitalstrategien notwendig sind, um den Kontakt zu Menschen auch in schwierigen Situationen zu halten. Erste neue digitale Beratungs- und Begleitszenarien wurden ausprobiert, weil kurzfristig Ressourcen für Hard- und Software sowie Weiterbildung bereitgestellt wurden.
Systemrelevant – dies ist für die Pflege weniger neu als für die Therapieberufe (z. B. Physio- und Ergotherapie). Pflegende erhielten symbolische Anerkennung und nun auch Gehaltserhöhungen. Der Arbeitsalltag in Krisenzeiten erfolgte für die Angehörigen der Gesundheitsberufe unter schwierigen Bedingungen. Besuchsverbote und Isolierung in stationären Langzeiteinrichtungen führten zu hoher Belastung für Bewohner_innen und Personal sowie dem Ausfall medizinischer Heilbehandlungen. Hinzu kam die Sorge, sich selber zu infizieren, weil dringend benötigte Schutzausstattung nicht ausreichte.
Für Menschen z.B. mit Demenz oder körperlichem Handicap haben sich Lebensqualität und Symptomatik verschlechtert. Hygienekonzepte sollen verhindern, dass es diese vulnerablen Gruppen wieder in aller Härte trifft. Hier wurde gelernt und trotzdem gibt es erneut Besuchsverbote.
Die Belastungsprobe des Gesundheitswesens zeigt sich auch im Falle der Beatmungsplätze, die ohne Personal nicht nutzbar sind. Nach dem Klinikaufenthalt geht es weiter. Wer eine schwere Covid-19 Infektion überlebt, braucht Rehabilitation. Hierfür werden weitere Ressourcen benötigt.
Die Bedeutung von verlässlichen Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsinstitutionen wird durch die Corona-Pandemie unterstrichen. Im aktuellen Teil-Lockdown bleiben Kitas und Schulen weitgehend geöffnet. Dies unterstützt die Bildungsbeteiligung von Kindern und Jugendlichen und wirkt Vernachlässigung, Gewalt und fehlender Lernbegleitung zumindest auf struktureller Ebene entgegen.
Gleichwohl bestehen nach wie vor strukturelle Barrieren wie Fachkräftemangel und ein unzureichender Personalschlüssel. Die Sicherstellung kleiner Gruppen, räumlicher Trennungen kann so spätestens bei Quarantäne oder Krankschreibung nicht gewährleistet werden. Erste Erkenntnisse zum Infektionsgeschehen in Kitas erhöhen den sicheren Umgang im pädagogischen Alltag.
In Schulen hält das digitale Lernen nach wie vor schleppend Einzug, die technische Infrastruktur sowie qualifiziertes Personal fehlen oft und damit auch der Ausgleich bestehender Benachteiligungen.
Unsere Stellungnahme aus dem Frühjahr fokussierte auf Ungleichheitsverhältnisse sowie Gefährdungen für Nutzende und Professionelle. Unsere Einschätzungen und Analysen bestätigten sich nicht nur, sondern wurden übertroffen. Für viele Menschen haben sich die soziale Teilhabe und finanzielle Absicherung verschlechtert und der gesellschaftliche Ausgleich der Krisenkosten ist ungeklärt. Der Blick auf die SAGE-Arbeitsfelder zeigt, dass Anerkennung, institutionelle Absicherung durch berufstypische-krisenerprobte Professionalität da Erhalt und Ausbau ermöglichen, wo Sichtbarkeit hergestellt und finanzielle, organisationale sowie dialogische Spielräume bestehen. Wir sehen diese auch als Ergebnis der Konfliktbereitschaft von Nutzer_innen, Professionellen und ihren Verbündeten in Sozialverwaltung und -politik. Dass erst sie eine gewisse Daseins-Vorsorge gewährleisten, scheint uns zu wenig. Es braucht mittel- und langfristige politische Strategien. Ziel sind krisenfeste öffentliche soziale Institutionen und Infrastrukturen. Das ist für uns Grund erneut gemeinsam dazwischen zu rufen!