Digitalisierung Sozialer Arbeit Big Data und Risikoeinschätzungen in der Kinder- und Jugendhilfe

Bericht zum Symposium „Digitalization, Risk Assessment, Decision-Making Tools, and Social Work“

Blatt mit einem Thema der Tagung und ein Stift
Michael Pifke

Die Digitalisierung Sozialer Arbeit nimmt im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen Fahrt auf (Kutscher et alt. 2020). Elektronische Datenerfassung wird bereits seit einigen Jahren in der Kinder- und Jugendhilfe etabliert. Mit der Intensivierung der Kinderschutzbemühungen werden vermehrt Instrumente der Risikoeinschätzung entwickelt. Die Möglichkeiten von „Big Data“ und algorithmisch gestützten Entscheidungssystemen versprechen, die Risikobewertungen auf ein neues Niveau zu heben.

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bemühungen Daten systematisch für Risikoeinschätzungs- und Entscheidungsprozesse in der Kinder- und Jugendhilfe zu nutzen, fand am 14.02.20 an der Alice Salomon Hochschule Berlin unter dem Titel „Digitalization, Risk Assessment, Decision-Making Tools, and Social Work“ ein englischsprachiges Symposium statt.

Falsche Hoffnungen in die Nutzung von „Big Data“

Keynotespeaker auf dem Symposium war Philip Gillingham von der University of Queensland (Australien), der seit einigen Jahren den englischsprachigen Diskurs mit seinen Forschungsarbeiten zum Thema bereichert (Gillingham 2019, 2014, 2011, Gillingham/Graham 2017). Gillingham warnte eindrücklich davor, falsche Hoffnungen in die Nutzung von „Big Data“ zu setzen. Die Hoffnungen auf objektive Berechnung von Risiken könnten nicht eingelöst werden, häufig würden vielmehr alltägliche „biases“ und Marginalisierungen reproduziert. Allzu oft sei unklar, wofür Risikoberechnungen überhaupt gebraucht würden. Ein „Fischen“ in bereits zu anderen Zwecken erhobenen Daten unterlaufe wissenschaftliche Standards, entsprechend derer eine hypothesengeleitete Datenerhebung notwendig sei. Die immensen finanziellen Investitionen für die Aufbereitung von Big Data seien an anderer Stelle, z. B. in der Professionalisierung von Fachkräften oder im Ausbau sozialer Infrastruktur besser aufgehoben.

Stephan Dahmen, Post-Doc an der Universität Bielefeld, wies auf die disparate Landschaft der in Deutschland verwendeten Einschätzungsinstrumente sowie auf deren „hybriden“ Gebrauch in der Praxis hin. Die Einführung des Paragraphen 8a im SGB VIII habe auf die Entwicklung von Risikoeinschätzungsinstrumenten wie ein Katalysator gewirkt habe. Sowohl im Feld der frühen Hilfen wie auch im Feld der Sozialen Arbeit seien die Instrumente jedoch zumeist nicht durch prädiktive, evidenzbasierte Faktoren gestützt. Wissenschaftlich fundierte Risikoeinschätzungsinstrumente würden mitunter einfach als „wissenschaftlich“ angesehen, weil Wissenschaftler_innen an der Entwicklung mitgearbeitet hätten. Dahmen kontextualisierte seine Überlegungen vor dem Hintergrund aktueller sozialpolitischer Rahmungen und Risikopolitiken (Dahmen 2018).

Aufrechterhaltung individualisierender Fallarbeit

Emma Schroth, Studentin der Sozialen Arbeit an der iba berlin, berichtet vor dem Hintergrund ihrer Praxiserfahrungen in einem Berliner Jugendamt. Die Nutzung von Risikoeinschätzungsinstrumenten könne den Handelnden das Gefühl vermitteln, bereits das Richtige oder genug getan zu haben. Sie bemerkte selbstkritisch, manchmal verließen sie und ihre Kolleg_innen sich daher vielleicht zu sehr auf die im Kontext der Jugendämter etablierten Risikoeinschätzungsinstrumente. Schroth plädierte für die Aufrechterhaltung individualisierender Fallarbeit gegenüber den standardisierenden Ansprüchen elektronischer Fallbearbeitungssoftware.

Timo Ackermann, Professor für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe an der ASH Berlin, demonstrierte an empirischen Materialien, wie Risikoeinschätzungsinstrumente Sozialarbeiter_innen in „Interaktionen“ verwickeln. Die Dokumente fordern die begrenzten Aufmerksamkeitskapazitäten von Sozialarbeiter_innen: Sie werden zu etwas, was in komplexen Entscheidungsumwelten „auch noch“ getan werden muss (Ackermann 2020). Die Sozialarbeiter_innen der Jugendämter entwickeln daher eigensinnige Praktiken im Umgang mit Dokumenten, die unterschiedliche intensive Interaktionen implizieren und sich zwischen „Ignorieren“ und „Häkchen Setzen“ einerseits sowie „Durcharbeiten“ andererseits bewegen.

Die Tagung endete mit einem Brainstorming für weitere Forschungsprojekte im Themenfeld. Diskutiert wurde z. B., den Produktionszusammenhang von Risikoeinschätzungsinstrumenten vermehrt in den Blick zu nehmen, aber auch die Perspektive von Nutzer_innen auf die Implementierung von solchen Instrumenten zu untersuchen. Insgesamt wurde für eine Forschung plädiert, die die Einführung von Instrumenten der Risikoeinschätzung, der elektronischen Dokumentation sowie von algorithmisch gestützten Instrumenten kritisch verfolgt. Dabei sollten, so der Tenor der Diskussion, insbesondere Implikationen für sozialarbeiterische Handlungszusammenhänge, professionelles Handeln und mögliche Marginalisierungen von Interesse sein.

Studierende, angehende Sozialarbeiter_innen, aber auch Lehrende und Forschende in der Sozialen Arbeit können insofern nur dazu angehalten werden, die Digitalisierung Sozialer Arbeit im Allgemeinen sowie im Besonderen die Nutzung von Big Data im Kontext der Risikoeinschätzung kritisch-forschend weiter zu verfolgen.

 

Literatur
Ackermann, Timo (2020): Einige Ambivalenzen des Entscheidens über das Kindeswohl – Zwischen „Fallzuständigkeit“, „Informiertheit“ und „Pseudo-Mathematik“. In: Kelle, H./Dahmen, S. (Hrsg.): Ambivalenzen des Kinderschutzes. Empirische und theoretische Perspektiven. Weinheim: Beltz Juventa.
Gillingham, Philip (2019): Can Predictive Algorithms Assist Decision‐Making in Social Work with Children and Families? In: Child Abuse Review 27, 2, S. 106–126.
Gillingham, Philip/Graham, Timothy (2017): Big data in social welfare: The development of a critical perspective on social work's latest “electronic turn”. In: Australian Social Work 70, 2, S. 135–147.
Gillingham, Philip (2014): Technology Configuring the User: Implications for the Redesign of Electronic Information Systems in Social Work. In: The British Journal of Social Work 46, 2, S. 323–338.
Gillingham, Philip (2011): Decision‐making tools and the development of expertise in child protection practitioners: are we ‘just breeding workers who are good at ticking boxes’? In: Child & Family Social Work 16, 4, S. 412–421.
Kutscher, Nadia/Ley, Thomas/Seelmeyer, Udo (2020): Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung. Weinheim: Beltz Juventa.
Dahmen, Stephan. (2018). Die Neue Sorge um das Kindeswohl - zu den praktischen Auswirkungen der präventionspolitischen Mobilmachung im Kinderschutz. Widersprüche, 39, 4, 45-58.