An einem regnerischen Mittwochnachmittag im Januar betritt die Labradorhündin Mina mit ihrer Halterin Karin – einer ausgebildeten Fachkraft für Tiergestützte Interventionen (TGI) – den Gruppenraum einer Therapeutischen Wohngruppe (TWG), in der fünf junge Menschen zwischen 13 und 27 Jahren und ein_e Betreuer_in aus der TWG in ganz unterschiedlicher Stimmung auf das Mensch-Hund-Team warten. Für die einen ist es eine selbst gewählte Herausforderung, etwas mit Hunden in einer kleinen Gruppe zu machen, für die anderen ist es der lang ersehnte Wunsch, endlich wieder Kontakt mit Hunden zu haben, die in den meisten TWGs im Alltag nicht präsent sind. Nach der kurzen Befindlichkeitsrunde soll heute eine Übung stattfinden, in der sich alle Jugendlichen gemeinsam einen Parcours ausdenken, in dem sie selbst die Hürden sind, die die Hündin überwinden soll. Es dauert eine Weile, bis die Idee ausdiskutiert ist und die ersten beiden Personen den Mut haben, sich gegenseitig an den gestreckten Armen zu halten, in die Hocke zu gehen, damit Mina über das Hindernis springen kann, um anschließend im Slalom zwischen den beiden anderen Jugendlichen hindurchgeführt zu werden. Der erste Anlauf scheitert – das etwas zu leise und aufgeregt gegebene Signalwort zum Start des Parcours kann Mina nicht deuten, setzt sich hin und schaut die Jugendlichen neugierig an. Bevor die positive Stimmung in der Gruppe in Frustration umschlägt, interveniert Karin sensibel und erläutert das Signal nochmals. Beim zweiten Versuch klappt es dann auch schon: Mina springt, läuft erst rechts, dann links an beiden Jugendlichen vorbei, bekommt am Schluss ihre Belohnung und fängt mit einem neuen Jugendlichen von vorne an.
Diese Szene gibt einen kleinen Einblick in die Umsetzung des bewältigungs-, gender- und traumasensiblen Interventionsprogramms „Berliner Schnauzen“, das im Rahmen des IFAF-geförderten Forschungsprojekts „Tiergestützte Interventionen in Therapeutischen Wohngruppen“ (TGI-TWG) entwickelt wurde und aktuell in sieben verschiedenen TWGs in Berlin und Brandenburg durchgeführt wird.
Mensch-Tier-Interaktionen haben ein spezielles Wirkungspotenzial
Insgesamt haben Tiergestützte Interventionen in den letzten Jahren in der psychosozialen Arbeit stark an Gewicht gewonnen, auch in der stationären Kinder- und Jugendhilfe (Saumweber 2009; Rinkel 2019). Viele Professionelle sind davon überzeugt, dass Mensch-Tier-Interaktionen ein spezielles Wirkungspotenzial haben, das sich in zwischenmenschlichen Begegnungen nicht in gleicher Weise aktivieren lässt. Gerade in der Arbeit mit jungen Personen in TWGs, die häufig biografisch hoch belastet sind, scheint diese sogenannte Eisbrecherfunktion besonders bedeutsam. Im IFAF-Projekt (TGI-TWG) wird durch einen kooperativen und interdisziplinären Zugang von Praxis- und Forschungsakteur_innen ein hundegestütztes Interventionsprogramm entwickelt und in der stationären Jugendhilfe erprobt.
Ziel des Forschungsprojektes ist es, Wirkungen und Effekte sowie Rahmenbedingungen für hundegestützte Interventionen in Therapeutischen Wohngruppen zu eruieren. Konkrete Fragen sind beispielweise, inwiefern sich hundegestützte Interventionen auf den Selbstwert, das Vertrauen und Wohlbefinden, die Kommunikation, den Gruppenzusammenhalt oder die Beziehungsgestaltungen junger Menschen in den TWGs auswirken. Die Evaluation der Wirkungen und Effekte (mixed-method-Studie) nutzt verschiedene quantitative wie qualitative Erhebungs- und Auswertungsverfahren, um die im Projekt involvierten Jugendlichen und Betreuer_innen zu befragen (unterschiedliche standardisierte Fragebögen, videogestützte Beobachtungen, 20 qualitative Interviews und 3 Gruppendiskussionen).
Bewältigungs-, gender- und traumasensibles Vorgehen
Das Interventionsprogramm fokussiert auf ein bewältigungs- und traumasensibles Vorgehen. In den Ursprungsfamilien der Kinder und Jugendlichen, die in Therapeutischen Wohngruppen leben, häufen sich psychosoziale Problemlagen (Wesenberg et al., 2019). Über 60 Prozent der fremd untergebrachten jungen Menschen weisen Symptome psychischer Problematiken auf, knapp 80 Prozent haben traumatische Erfahrungen, viele sind sequenziell traumatisiert (Schmid, 2007). Die sich daraus ergebenden besonderen Charakteristiken der Zielgruppe des tiergestützten Programms werden in der Konzeption der Intervention wie auch der Begleitevaluation berücksichtigt.
Zudem wird im Projekt TGI-TWG ein gendersensibles Vorgehen umgesetzt. Wie Lotte Rose (2012) konstatiert, spielen Geschlechterfragen im Fachdiskurs zu Tiergestützten Interventionen bislang nur selten eine Rolle. In den wenigen vorhandenen Untersuchungsbefunden aus der Forschung zu Mensch-Tier-Beziehungen – zumeist quantitativen Befragungsstudien – finden sich (statistische) Unterschiede zwischen den erfragten Geschlechtszugehörigkeiten „männlich“ und „weiblich“. Zum einen finden sich kaum Befunde jenseits dieser Binarität, zum anderen sind die Texte zu den Studien stark differenztheoretisch figuriert und erwecken den Eindruck einer markanten Geschlechterdifferenz, die in einem nächsten Schritt theoretisch plausibilisiert wird.
Im vorliegenden Projekt soll es explizit nicht darum gehen, Geschlechterunterschiede zu reifizieren. Ein gendersensibles Vorgehen wird dagegen in der Durchführung des Programms „Berliner Schnauzen“ als auch in der begleitenden mixed-method-Studie in verschiedener Weise realisiert: Zum Beispiel werden die Fachkräfte für Tiergestützte Interventionen in einem Workshop explizit hinsichtlich der Thematik sensibilisiert. In der Begleitevaluation wird auf die in Fragebögen häufig zu findende ausschließliche Erhebung des biologischen Geschlechts nach dem binären Modell verzichtet und in der Auswertung der Daten werden soziale Differenzierungen jenseits der Geschlechterkategorie in den Blick genommen. In den qualitativen Interviews und Gruppendiskussionen werden bewusst Möglichkeiten hergestellt, Themen rund um geschlechtliche (und auch sexuelle) Vielfalt zu besprechen. Hier gibt es also stets viel zu bedenken.
Bis zum Spätsommer diesen Jahres werden Mina und Karin sowie die beiden anderen Mensch-Hund-Teams in allen sieben TWGs das Interventionsprogramm durchgeführt haben, sodass daran anknüpfend Empfehlungen und Best-Practice-Beispiele zu tiergestützter Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe abgeleitet und veröffentlicht werden können. Wie unsere verschiedenen Vorhaben in der Praxis ankommen bleibt also gespannt abzuwarten.
Kurzinformationen:
Projektname: Tiergestützte Interventionen in Therapeutischen Jugendwohngruppen
Projektlaufzeit: 01.04.2019 bis 31.03.2021
Projektleitung: Prof. Dr. Silke Gahleitner und Prof. Dr. Sandra Wesenberg (ASH Berlin), Prof. Dr. Claudia Gather und Prof. Dr. Sigrid Betzelt (HWR Berlin)
Projektmitarbeiter_innen: Annett Eckloff, Conny Martina Bredereck (Wissenschaftliche Mitarbeiter_innnen); Marilena de Andrade, Joana Lanwehr (Studentische Mitarbeiter_innen)
Kooperationspartner_innen: ajb GmbH, Leben mit Tieren e. V., Pestalozzi-Fröbel-Haus Berlin (PFH), Koralle – Therapeutische Wohngruppen, Pfefferwerk, TWG Cayenne 1055, Prowo e. V., EJF – Dr. Janusz Korczak-Haus am Tierpark
Mittelgeber_in: Institut für angewandte Forschung Berlin (IFAF Berlin)
Kontakt: E-Mail: berliner.schnauzen@ ash-berlin.eu
Projektwebseite: www.ash-berlin.eu/forschung/forschungsprojekte-a-z/tgi-twg/
Quellen:
Wesenberg, Sandra, Frank, Christina, de Andrade, Marilena, Weber, Miriam & Gahleitner, Silke Birgitta (2019): BEGEVAL. Begleitevaluation der Therapeutischen Jugendwohngruppen in Berlin. Abschlussbericht. November 2018. Goßmannsdorf: ZKS Medien.
Saumweber, K. (2009): Tiergestützte Pädagogik in der stationären Jugendhilfe. Die Wirkung tiergestützter Interventionen bei verhaltensgestörten Jugendlichen in stationären Jugendhilfemaßnahmen. Zugl.: Diss., Uni Köln. Norderstedt: Books on Demand.
Rinkel, S. (2019): Tiere in der stationären Jugendhilfe. Hunde als Mitbewohner verhaltensauffälliger Jugendlicher. Dortmund: Fachhochschule Dortmund.
Rose L. (2012): Hat Tierliebe ein Geschlecht? Bestandsaufnahme zur Genderforschung in der Mensch-Tier-Beziehung. In Jutta Buchner-Fuhs und Lotte Rose (Hrsg.). Tierische Sozialarbeit. Ein Lesebuch für die Profession zum Leben und Arbeiten mit Tieren (S. 285–307). Heidelberg: Springer
Schmid, M. (2007): Psychische Gesundheit von Heimkindern. Eine Studie zur Prävalenz psychischer Störungen in der stationären Jugendhilfe. Weinheim: Juventa.