Als die Nachfahr_innen von Alice Salomon 2021/22 große Teile des Familiennachlasses dem Alice Salomon Archiv (ASA) übergaben, war die Freude groß. Da von Alice Salomon selbst kein Nachlass erhalten ist und die Geschichte ihrer Familie kaum erforscht wurde, verspricht der Nachlass der Familie Salomons neue Erkenntnisse. Im Fokus dieser Sammlung stehen – neben Alice Salomon selbst – ihre Nichten: Maria Hepner (1896–1992) und Leonie Cahn (geb. Hepner, 1896–1994). Die beiden Frauen waren auch diejenigen, welche den Familiennachlass bewahrten, lange Jahre mit sich führten und so ermöglichten, dass ihre Kindeskinder ihn letztlich dem ASA überreichen konnten. Die Zwillinge Maria und Leonie verbrachten Teile ihrer Jugend auf dem Familiensitz in Kopanin, in Berlin und auf dem familieneignen Schloss Heidewilxen in Schlesien. Als junge Frauen zog es sie dann wieder in die Großstadt Berlin, in der sie das kulturelle Leben genossen und zeitweise an der Sozialen Frauenschule in Berlin-Schöneberg tätig waren.
In umfangreichen Korrespondenzen, Tagebüchern und Manuskripten lässt sich das Leben der Familien über die Jahre verfolgen. In den 1920er-Jahren zog Leonie mit ihrem Mann Fritz Cahn in die Schweiz, wohin ihnen Maria 1933 folgte, weil sie nach einer Hausdurchsuchung der Nazis flüchten musste. 1974 wanderten die beiden Frauen nach Großbritannien aus, wo sie bis zu ihrem Lebensende gemeinsam lebten. Die Nationalsozialist_innen zwangen nicht nur Alice Salomon 1937 ins Exil. Ihre Familie, die in Deutschland zuhause gewesen war, musste in die ganze Welt flüchten: Salomons Nichte Charlotte Löwenstein (geb. Hepner, 1893–1951) emigrierte bereits 1924 nach Palästina, ihr Neffe Fritz Hepner floh 1939 nach der Freilassung aus einem KZ nach Uruguay, andere Familienmitglieder wanderten nach Großbritannien, Argentinien und in die USA aus. Alice Salomons Schwester Olga Reisner (1876–194?), ebenso ihr Neffe Richard Salomon (1894–1942/3) hingegen wurden in Vernichtungslager deportiert. Richard wurde in Auschwitz ermordet.
In den vielen Briefen, die sich die Familien schrieben, lassen sich die Widrigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatten, aber auch die zahlreichen Besuche der Familienmitglieder untereinander nachlesen. Durch die umfangreiche Fotosammlung haben wir zu diesen Briefen, den Tage- und Reisebüchern, den Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden erfreulicherweise auch Gesichter.
Die Dokumente erzählen zahllose kleine und große Geschichten, wie sie zum Alltag vieler Familien gehören. Doch die Tatsache, dass viele Familienmitglieder gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen, andere hingegen dem NS-Terror zum Opfer fielen, hebt diese Familiengeschichte von anderen ab. Wir erhalten hier nicht nur Einblicke in die Familie, die Alice Salomon hervorgebracht hat, sondern auch in das jüdisch-bürgerliche Leben Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts, das Erleben von Flucht, Vertreibung, Ermordung und das Leben in der jüdischen Diaspora.
Im Juli 2022 startete das Projekt „Die Zwillinge und Tante Ly: Ein Digitalisierungsprojekt zur Familiengeschichte Alice Salomons“, gefördert durch das Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung Berlin (digiS). Innerhalb von 1,5 Jahren wird das ASA-Team den wertvollen Familiennachlass zum großen Teil digitalisieren, wissenschaftlich aufarbeiten und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen.[1]
Darüber hinaus beinhaltet das Projekt drei Vermittlungsmodule. In einer virtuellen Ausstellung im DDBstudio (Deutsche Digitale Bibliothek), über die Website Jewish Places (Stiftung Jüdisches Museum Berlin) und über die berlinHistory App wird die Familiengeschichte, aber auch die Geschichte der Sozialen Arbeit, erlebbar. Auf interaktiven Karten werden Digitalisate von Texten und Bildern, Audiointerviews und Points of Interest verortet und mit erläuternden Texten kontextualisiert. So können beispielsweise in Form von Stadtspaziergängen die vergangenen Zeiten Salomons und ihrer Familie in Berlin in die Gegenwart geholt werden.
Kurzinformation
Projektname: Die Zwillinge und Tante Ly
Ein Digitalisierungsprojekt zur Familiengeschichte Alice Salomons (2022)
Projektlaufzeit: 15.08.2022 bis 31.12.2023
Projektleitung: Prof. Dr. Sabine Toppe
Projektmitarbeiter_innen: Filiz Gisa Çakır (Projektleitung), Friederike Mehl, Pascal Paterna
Kooperationspartner_innen: berlinHistory e. V., Stiftung Jüdisches Museum Berlin
Förderer_in: Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung Berlin (digiS)
Kontakt: cakir@ ash-berlin.eu
[1] Ergänzt wird dieser Bestand durch den Vorlass von Joachim Wieler, dessen Recherchen zu Salomons Leben im New Yorker Exil 1983 erstmals die Publikation von Salomons Autobiographie „Charakter ist Schicksal“ in Deutschland ermöglichten. Diese Archivalien dokumentieren die Wiederentdeckung von Salomons Bedeutung für die Soziale Arbeit, die internationale Frauenbewegung und die Stadt Berlin.