Wenn Marcelo P.* [*Name von der Redaktion geändert] über den Herrentag 1990 spricht, wandert sein Blick in die Ferne und seine Augen werden traurig. Es ist der Tag, an dem der Industrieschweißer einem rechten Übergriff in Cottbus nur knapp entgeht. Er und sein Freundeskreis – alle Vertragsarbeiter_innen, viele davon ebenfalls schwarz – richten ihre Tagesplanung, ihre Wege, ihre Freizeitgestaltung danach aus, möglichen Übergriffen zu entgehen und bloß niemanden zu provozieren. Besonders gefährlich ist die Disco. Ein Freund von Marcelo wurde dort von einer jungen Frau mit einem Stöckelschuh verprügelt, „man konnte danach sogar Löcher sehen!“.
Als wir Marcelo im Rahmen des Forschungsprojektes Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche im Herbst 2021 interviewen, ist es für uns als Forschende immer noch spürbar, wie präsent die alltägliche rechte Gewalt im Leben von Betroffenen auch über dreißig Jahre später noch ist, wie lebendig die Erinnerung daran immer noch zu sein scheint. Gespräche, wie das mit Marcelo, prägen auch unsere Haltung, mit der wir uns den Interviews mit ehemaligen Fachkräften widmen, die damals in neu gegründeten Jugendclubs die Jugendlichen „von der Straße holen“ wollten.
Die ersten Jahre nach der „Wende“ und der Vereinigung beider deutscher Staaten waren an vielen Orten von rassistischen Ausschreitungen und rechten Gewalttaten geprägt. Oftmals waren die Täter_innen Jugendliche, die dem rechten oder rechtsextremen Spektrum zugeordnet wurden. In der Sozialen Arbeit entwickelte sich als Reaktion darauf eine kontroverse Debatte, in der der Begriff der Akzeptierenden Jugendarbeit einen wichtigen Stellenwert einnahm. Auch die Polizei stand infolge dieser massiven Eskalation vor neuen Herausforderungen und galt zudem durch die Umstrukturierung in Ostdeutschland als „verunsicherte Institution“.
An diese Ausgangssituation knüpft das Forschungsprojekt JUPORE mit dem Ziel an, das polizeiliche und sozialpädagogische Handeln gegenüber rechten und rechtsextremen Jugendlichen in den Fokusregionen Cottbus und Berlin-Lichtenberg zu rekonstruieren. Besonders zentral für ein umfassendes Verständnis sind hierbei genderreflektierende und rassismuskritische Perspektiven.
Wir standen hierfür im engen Austausch mit unseren Kooperationspartner_innen, zudem haben wir je ein (digitales) Werkstattgespräch mit Wissenschaftler_innen und Praktiker_innen aus Polizei und Sozialer Arbeit durchgeführt und uns über Zwischenergebnisse ausgetauscht.
„Aus genderreflektierender Perspektive stellt sich die Frage, welche Auswirkungen fehlende Konzepte und Konzeptionen auf den Umgang mit rechten Jugendlichen haben.“
Zu den angewandten Methoden zählen, neben der Kritischen Diskursanalyse und Ethnografischen Begehungen, leitfadengestütze Interviews. Letztere wurden mit (ehemaligen) Fachkräften aus Jugendarbeit und Polizei, ehemaligen rechten Jugendlichen, Betroffenen, Beobachter_innen, Engagierten aus der kritischen Zivilgesellschaft sowie Expert_innen aus der Begleitforschung geführt. Die Gespräche werden derzeit anhand der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz ausgewertet. Erste Ergebnisse wurden Ende März bei einer interdisziplinären Abschlusstagung im Audimax der ASH Berlin präsentiert, zudem arbeiten wir gerade an einer Publikation, die sowohl die Forschungsergebnisse als auch einige Aspekte der Tagung vertiefend darlegt.
Die Interviews mit den ehemaligen Fachkräften zeigen, dass dem Konzept der Akzeptierenden Jugendarbeit zwar eine Bedeutung zugewiesen wurde, das alltägliche fachliche Handeln jedoch eher von situativen Einschätzungen, und weniger von ausgearbeiteten Konzeptionen geprägt war.
Aus genderreflektierender Perspektive stellt sich die Frage, welche Auswirkungen fehlende Konzepte und Konzeptionen auf den Umgang mit rechten Jugendlichen haben. In den Ausführungen der Fachkräfte dokumentieren sich einige Situationen, in denen Geschlechternormen handlungsleitend zu sein scheinen. Normative Geschlechtervorstellungen werden somit nicht in ihrer Widersprüchlichkeit und Gewaltförmigkeit infrage gestellt, bearbeitet oder gar dekonstruiert, sondern erfahren eine wirkmächtige Tradierung – auch durch die Fachkräfte. In den geschilderten Situationen zeigt sich ein Rückgriff auf eigene normierte Genderinszenierungen und -praxen (und damit auf den erlernten männlichen Habitus). Diese Problematik wird durch den Kontext der Zielgruppe der rechten und rechtsextremen Jugendlichen verschärft, bei der Gewalt, Sexismus, Misogynie und Antifeminismus zum integralen Bestandteil der Ideologie gehören.
Unsere Forschungsergebnisse veranschaulichen, wie das fachliche Handeln durch die Transformationsprozesse geprägt wurde. Sowohl Polizei als auch Jugendarbeit wurde damals die Aufgabe des gesellschaftlichen Problemlösers zugewiesen. Beide Berufsgruppen fokussierten sich in ihrer Arbeit auf gewalttätiges Handeln und männliche Täter, wobei sich besonders die Jugendarbeit an den Bedarfen der Täter orientierte. Aus dem Fokus gerieten dabei die weiblichen Nutzerinnen der Jugendclubs, wie auch Betroffene rechter Gewalt – so etwa Marcelo, der junge Industrieschweißer aus dem Interview.
Er sieht damals keine andere Möglichkeit, als Cottbus zu verlassen und sein Glück in Berlin zu versuchen. Im Gespräch mit dem Forschungsprojekt fasst er die Zeit nach dem Mauerfall so zusammen: „Es gab nichts Gutes, nichts Schönes. Die Jugendlichen hatten einfach zu wenig Perspektive und zu viele Möglichkeiten“.
Kurzinformation
Projektname: Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche in den 1990er-Jahren
Projektlaufzeit: 01.04.2020–31.08.2022
Projektleitung: Prof. Dr. Esther Lehnert (ASH Berlin), Prof. Dr. Christoph Kopke (HWR Berlin)
Projektförderung: IFAF Berlin
Projektpartner: Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung, Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, Emil Julius Gumbel Forschungsstelle – Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung
Website: https://www.ifaf-berlin.de/projekte/jupore/
Vero Bock studiert im M.A. Praxisforschung, Lucia Bruns ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt JUPORE.