Lead, University Life Über Mut, (Über-)Leben und Zukunft

Die ASH-Reihe „Zivilgesellschaftliches Engagement in Israel/Palästina" entwickelte im WiSe Perspektiven jenseits polarisierter Berichterstattung

Das Foto zeigt die Kopie des Grafitis "Armoured Dove" des Künstlers Banksy.
Das Foto zeigt die Kopie des Grafitis "Armoured Dove", mit dem der Künstler Banksy den Konflikt schon 2005 kritisierte. Das Orginal ist in Bethlehem zu finden. ASH Berlin/ Denis Demmerle

Die unübersichtliche und teilweise katastrophale Lage in Israel, Palästina und Gaza – oder eigentlich der ganzen Region – als dynamisch zu beschreiben, wird den sich überschlagenden Ereignissen kaum gerecht. Der Wechsel der US-Präsidentschaft von Biden zu Trump verkompliziert die Lage weiter. Zwar herrscht Waffenruhe und die Geiseln des terroristischen Überfalls, die die Hamas am 7. Oktober genommen hat, werden gegen palästinensische Gefangene von Israel ausgetauscht, aber gleichzeitig phantasiert Trump von einer „Riviera des Nahen Ostens“, die von den USA kontrolliert werden solle, was nichts anderes als annektiert meint. Inklusive einer Vertreibung der vom Krieg geplagten Bevölkerung.
Das alles und noch so unglaublich viel Unsagbares mehr geschah in den nur wenigen Monaten des Wintersemesters 2024/25. Mit der Vorlesungsreihe „Zivilgesellschaftliches Engagement in Israel/Palästina. Stimmen gegen die Perspektivlosigkeit“ gelang es an der ASH Berlin Perspektiven von dort ein Forum zu geben, von Menschen, die jenseits der polarisierten Berichterstattungen über Krieg, Angst, Hass und Terror schon vor dem schrecklichen 7. Oktober 2023 für ein Miteinander und Menschlichkeit kämpften – und das konsequenterweise mit Taten statt Waffen, aber dennoch unter großen Opfern.

Die Reihe verschafft Menschen Gehör, die eigenes Erleben teilen. Die eingeladenen Aktivist_innen berichten den Besuchenden der vier Vorlesungen über deren Leben und Arbeiten vor Ort: in Israel, Gaza oder der Westbank. Diese Region im nicht enden wollenden Ausnahmezustand ist deren Heimat. Doch eben nicht Krieg und Terror oder das Leid, das jede und jeder der Referent_innen (auch) offenbarte, standen im Vordergrund, sondern die Fragen nach einem Danach, nach dem, wie es weitergehen kann und dem was kommt, wenn die Waffen dauerhaft schweigen.

Die Gäste baten die Organisatorinnen der Reihe, Vered Berman, Prof. Dr. María do Mar Castro Varela und Prof. Dr. Bettina Völter, darum, gegen die Polarisierungen in den großen Erzählungen und Haltungen zu arbeiten.
Die folgende Zusammenschau der Veranstaltungen, das wird deutlich, eint der Glaube und die Hoffnung auf eine Zukunft.

„Bildung ist kein Privileg, sie ist ein Recht“ – Asmaa Abusamra

Zur Person: Asmaa Abusamra ist Forscherin an der Universität Oslo im Rahmen eines Scholars at Risk-Stipendiums und Assistenzprofessorin für Bildungsmanagement an der University College of Applied Sciences in Gaza. Ihre Fachgebiete liegen in den Bereichen Hochschulreform, strategische Planung und KI-gesteuerte Organisationsentwicklung. Sie hat verschiedene Initiativen zur Unterstützung des Bildungswesens in Konfliktsituationen – insbesondere im Gazastreifen – geleitet, um Bildungsmöglichkeiten auch in Krisenzeiten zu erhalten und zu sichern.

Für einen „Day 2 after the war“, wie Asmaa Abusamra ihre Perspektive zum Auftakt der Reihe am 5. November 2024 als einen Leitgedanken formulierte, braucht es Ideen und Vorbereitungen. Und um überall auf der Welt Unterstützende zu finden, braucht es den Mut an Morgen zu denken, um vorherrschende Polarisierungen zu überwinden.
Abusamra spricht ruhig, wenn sie über Unvorstellbares spricht. Die Bilder in den Köpfen der Zuhörenden entwickeln ihre Wucht von selbst. 200 Tage, also sieben Monate, hat sie im Krieg unterrichtet. „Im August 2024 wurde das letzte Gebäude meiner Universität zerstört“, berichtet sie, aber ihren Fokus legt sie konsequent in die Zukunft, auf ein Danach. „Es gibt Pläne, wie temporäre Klassenräume entstehen können. Es geht darum, wie wir unsere akademische Infrastruktur wieder aufbauen können“, sagt sie. In Gaza sei man Kriege gewohnt, erinnert sie im Rückblick auf die Kriegsjahre 2000, 2008, 2012, 2014 und 2018 in denen „fragile Infrastruktur, immer wieder zerstört wurde“. Circa 90.000 Studierende lernen in Gaza an den dortigen zwölf Hochschulen. Schon 2014 wurde ihre Universität zerstört, berichtet sie, aber „nach dem Krieg kamen die Studierenden, haben aufgeräumt und weiter gemacht. Das ist Resilienz“.
Es gehe um Menschen und Rechte. Wir, sagt sie, „wollen Kindern Bildung ermöglichen. Denn Bildung ist kein Privileg, sie ist ein Recht.“ Den Satz lässt Abusamra nachwirken und erzielt so einen wuchtigen Nachdruck. Im Laufe ihres Berichtes wird sie ihn an diesem Nachmittag im Audimax der Hochschule wie ein Mantra immer wieder wiederholen.

Angesprochen darauf, wie man helfen könne, führt sie aus: „Wir brauchen kein Geld von den Unis, die ich besuche, wir brauchen Pläne für Bildung. Für Danach, nach dem Krieg. Dafür braucht es Zusammenarbeit.“

Über die Grenzen der Bedingungslosigkeit - Ibrahim Abu Ahmad & Amira Mohammed

Zu den Personen: Amira Mohammed ist eine palästinensische Friedensaktivistin aus Ost-Jerusalem, die sich für das Ende der israelischen Besatzung und der systematischen Unterdrückung der Palästinenser einsetzt. Ibrahim Abu Ahmad wurde in Nazareth geboren und ist dort aufgewachsen. Derzeit lebt der palästinensisch-israelische Friedensaktivist, Speaker und Autor in Nordisrael.
Beide sind Mitbegründende des einflussreichen Podcasts „Unapologetic – The Third Narrative“, der verschiedene Gruppen, darunter Studierende, Journalist_innen, gewählte Vertreter_innen und politische Entscheidungsträger_innen, anspricht und nuancierte Perspektiven auf den palästinensisch-israelischen Konflikt bietet. Mit ihrem Podcast haben sie keine drei Wochen nach den Anschlägen vom 7. Oktober begonnen.

María do Mar Castro Varela klärt zu Beginn über die Besonderheit dieser Veranstaltung innerhalb der Reihe auf und betonte die Wichtigkeit der so genannten „Third Narrative“. Denn „die Rolle, die Positionen, die Interventionen von Menschen, die Palästinenser sind, aber in Israel leben“, sagt sie, sind die, „die im Diskurs nicht beachtet werden, obwohl sie einen wichtigen Teil der Bevölkerung Israels ausmachen“.

Seine Motivation beschreibt Ibrahim Abu Ahmad gleich zu Beginn der Veranstaltung drastisch wie dringlich: Er habe das Gefühl, dass „es die letzte Gelegenheit sein könnte, über eine Zukunft zu sprechen. Wir wollten neue Perspektiven für den Diskurs gewinnen“. Er, der seine Jugend als Palästinenser in Israel erlebt hat, interpretiert die Polarisierung in der Öffentlichkeit nach dem 7. Oktober mit einer eindeutig nicht hinreichenden Formel: Pro Palästina zu sein, bedeutet gegen Israel zu sein... und erklärt, wie sie mit dem Podcast „den Raum dazwischen besetzen wollen“, wie er sagt, diesen gebe es.
Denn: „Krieg ist kein Fußballspiel, bei dem man die Fahne für sein Team hält. Am Ende des Krieges wird es keine Sieger geben und nur Verlierer.“

Dort setzt seine Podcast-Mitstreiterin Amira Mohammed an, man höre nur noch Zahlen, sagt sie. „Die Geiseln und die tausende Toten in Palästina sind zu Zahlen geworden. Wir wollen aber die Geschichten dieser Menschen erzählen.“ Diese Geschichten erzeugen Verunsicherungen und fordern so das polarisierte Narrativ heraus.
Die Grenzen der Polarisierung offenbaren sich dank der Komplexität der Lage leicht. Ibrahim Abu Ahmad verdeutlicht dies am Beispiel der „vorbehaltlosen Unterstützung“, zu der sich auch die deutsche Regierung verpflichtet fühlt. Er fragt, was das bedeute, um darauf hinzuweisen, dass man so „in Israel eine radikale Regierung unterstützt und die zu Vertretern des Volks macht“. Dem stellt er Palästinas Führung gegenüber, die „keine Wahlen erlaubt“, „korrupt ist“ und deshalb „nicht als Vertretung für das Volk steht“.

Als Ansatz zur Überwindung des Dilemmas wünscht er sich von Regierungen formulierte Bedingungen der Unterstützungen. Denn die „sind ein Hebel, das zu ändern. Die internationale Gemeinschaft kann da was tun. Es muss eingefordert werden und darf nicht nur ein Vorschlag sein“. Weiter solle es besser darum gehen, die Menschen vor Ort konkret zu unterstützen. Die Hälfte der Bevölkerung sei gegen die israelische Regierung. Er fragt rhetorisch: „Wie kann es sein, dass Deutschland nicht die Regierung kritisieren darf, während die Hälfte der israelischen Bevölkerung sagt, dass die Regierung Faschisten sind?“
Sein Schluss: „Durch die Gleichsetzung von der israelischen Regierung mit dem Volk, tut man diesem Gewalt an.“ Amira Mohammed ergänzt an anderer Stelle: „Die israelische Bevölkerung mit der israelischen Regierung gleichzusetzen wird zu mehr Antisemitismus führen“ und leitet daraus die konsequente Forderung ab, dass „kein Staat bedingungslos unterstützt werden sollte“.

Der Podcast der beiden verdient sich seinen Namen mit starken Thesen wie diesen. Die Themen und wie sie behandelt werden, das ist im besten Sinne „unapologetic“ (dt.: ungeschminkt, unverfroren). Es geht ihnen um eine präziser dargestellte Realität und genau deshalb wollen sie über alles und über mehr als nur zwei Seiten sprechen.

So gehen sie mit der Frage nach einem Boykott israelischer Organisationen ähnlich differenziert und klug um wie mit der der bedingungslosen Unterstützung – gerade auch, weil sie unterschiedlicher Meinungen sind.
Amira Mohammed hält Boykott für richtig, aber benennt auch Grenzen des eigenen Handelns, wenn sie sagt: „Ich würde gerne vermeiden Steuern zu zahlen, weil damit Militär finanziert wird. Aber ich kann das nicht boykottieren.“ Letztendlich gehe es darum, Alternativen aufzuzeigen und einzufordern. „Man kann über Non-Violent-Protest informieren“, betont sie, und so Alternativen aufzeigen.
Das Stichwort greift Ibrahim Abu Ahmad auf, der Boykott zwar für legitim hält, sich aber stattdessen effektive Maßnahmen wünscht, „Maßnahmen, die Menschen nützen“. Er denkt an das ermöglichen von Stipendien, Austauschmöglichkeiten oder Empowerment für palästinensische Studierende oder auch für weibliche Führungskräfte. „Eine Kerze anzuzünden bringt mehr als tausend Mal die Dunkelheit zu verfluchen“, sagt er. "Boykott führt immer dazu, dass irgendwann Menschen boykottiert werden.“

Mit Blick auf das Ganze betont Amira Mohammed noch einmal: „Jede Art von Gewalt, insbesondere gegen unbewaffnete Zivilisten, ist falsch.“ Darauf aufbauend könne die Frage nach der Perspektive für eine Zukunft angegangen werden, denn: „Es gibt keinen Weg zurück zum 7. Oktober und damit keinen Weg zurück zum 6. Oktober nach all dem, was danach passiert ist.“ Zuerst und dringlich müsse man nun Menschen retten, inklusive der israelischen Geiseln natürlich. Danach müsse die Hamas verurteilt und ersetzt werden, ebenso wie die palästinensische Autonomiebehörde und die israelische Regierung.
Das Danach – und damit greifen die beiden letztlich die Vision von Asmaa Abusamra auf – sei entscheidend, denn neben den Verurteilungen von diesem und jenem, sollte man auch wissen, wofür man ist.

Hilflosigkeit - Yariv Lapid

Zur Person: Der Forscher und Pädagoge Yariv Lapid arbeitet als leitender Strategieberater für das United States Holocaust Memorial Museum in Washington DC. Er studierte Geschichte in Israel und Deutschland, leitete die KZ-Gedenkstätte in Mauthausen/ Österreich und war u.a. bei israelischen Nichtregierungsorganisationen tätig, die sich mit sozialen Konflikten befassen.

Zu den unterschiedlichen „Blickwinkeln auf die Situation in Nahost“, wie Bettina Völter vor Beginn von Yaref Lapids Schilderungen sagt, gehöre natürlich die Innenperspektive aus Israel. Insbesondere ein Aspekt, den sich die Organisatorinnen der Reihe als wichtiges Mosaiksteinchen im großen Bild wünschen: Das dortige zivilgesellschaftliche Engagement.

Noch ehe Lapid in die Details geht, umreißt er die Rahmenbedingungen, in denen er sich bewegt. „Die Kombination aus den Ereignissen des 7. Oktober und der aktuellen Regierung ist unglückselig und eine gefährliche Situation für Israel“, sagt er, um eigene Biografieerfahrung zu ergänzen: „Ich kann die Europäer nicht nur nach deren Meinung fragen, wenn es mir gerade passt.“ Das sei sein Learning aus der eigenen Erfahrung als junger Student in Hamburg zu Zeiten von Kohl, Thatcher und Co. Das ist Lapid wichtig, denn ihm geht es, das wird sich durch seinen Vortrag ziehen, darum, zu verstehen, dass „das Wort Kontext von allen genutzt wird, aber unterschiedliche Umstände meint“. Die Wahrnehmung von Israel ist in unterschiedlichen Kontexten sehr unterschiedlich. „Die Ereignisse des 7. Oktober haben uns den Hass unserer Nachbarn vergegenwärtigt, der eine Ausrottung der israelischen Bevölkerung vorsieht.“ Das sei eine Position in der extrem Polarisierung des Konflikte. Diese würden in der israelischen Öffentlichkeit und in den Medien die allgegenwärtigen Berichte der Trauernden bestätigen und überbetonen, doch ausgeblendet bliebe dabei, dass „Israel gleichzeitig betrachtet wird, wie wir dasselbe tun“ wenn Gaza bombadiert wird.

Aus dieser Exposition heraus, stellt Lapid Bezüge zu seiner Holocaust-Arbeit her, wo bei der „Betrachtung der externen Pole diese sehr klar zu beschreiben sind“, aber „der Blick in die Mitte komplizierter ist“. Dort entstehe eine „Kognitive Dissonanz“, deren kluge Beschreibung eine parallele zur heutigen Situation aufzeigt: „Die Menschen in Mauthausen tranken damals täglich ihren Kaffee, während nebenan Menschen getötet wurden. Heute trinke ich täglich meinen Kaffee, auch wenn nebenan in Gaza täglich Menschen sterben.“ Lapid wählt seine Worte sorgfältig und präzise. Jede_r im Raum fühlt mit ihm, wenn er bekennt: „Ich fühle mich hilflos.“
Er fragt rhetorisch: „Kann man über diese Entmenschlichung durch die anderen hinwegkommen?“ Seine Antwort: „Ja, auf persönlicher Ebene schon.“ Das ist, was ihn „sein“ Kontext gelehrt hat, verstehen die Zuhörenden.

Lapid spricht von „Horror der israelischen Regierung“, innerhalb der es faschistische Tendenzen gebe. Er geht auf die Sonderrolle ultraorthodoxer Gruppierungen ein, die einerseits vom Militärdienst freigestellt sind, andererseits ein Interesse daran haben, dass der Krieg weiter geführt wird. Betont die Rolle der israelischen Medien, die „sehr wenig und mit wenig Empathie über Gaza und die Situation dort berichten“. Er bestätigt, was in der Veranstaltung zuvor Amira Mohammed aufzeigte, wenn er ausführt, dass „in den Medien fast nicht über persönliche Schicksale berichtet wird", das sei „sehr unproportional“.

Nach all den Schilderungen der vertrackten Lage der Gesellschaft, in der er lebt, beklagt er die zwischen den Polen verschwindende Mitte. Ihm falle es schwer, „Optimismus zu entwickeln“, bestätigt er und versucht, mit einer seiner Lehren aus dem Holocaust an die Situation ran zu gehen: „Es sind nicht nur schlechte Menschen, die schlechte Dinge tun. Es gibt auch gute Menschen, die Böses tun. Es sind nicht nur schlechte Menschen in der israelischen Regierung. Mit ihren Taten werden sie aber böse.“ Er kommt zu dem Schluss, dass deren "moralischer Kompass nicht im Kontext funktioniert, sie können es deshalb nicht aufhalten“.
Seine Arbeitsbiografie gibt ihm Hoffnung, er nennt es ein „Ambiguitätstoleranznarrativ“, wenn er sagt: „The story ends well.“
Diesen Glauben an eine bessere Zukunft leitet er aus Deutschland und dem Umgang mit dem Holocaust ab, denn hier wurde „die BRD gegründet und so das Nazi-Land abgelöst“. Die sei heute eine wehrhafte Demokratie.
Auf sein Land blickend, identifiziert er die Reservisten als „die wichtigste Oppositionsgruppe gegen die Regierung“, um aber gleich wieder zu betonen wie schwierig Widerstand in Kriegszeiten sei. Deshalb hoffe er auf Impulse und Druck von außen. „Beide Seiten sind abhängig von anderen“, sagt er. „Beide sollten von ihren Partnern zu Solidarität gezwungen werden, im Sinne der Humanität.“
Womit Yariv Lapid wieder an Amira Mohammed und Ibrahim Abu Ahmad anknüpft, die ebenfalls ein konstruktives Eingreifen statt eines bedingungslosen Unterstützens fordern.

„Wir sind nicht gegen Israel oder Palästina, wir sind für den Frieden.“ – Wajih Tmaiza Fawzeya & Yuval Rahamim

Zum Abschluss der vierteiligen Reihe begrüßt die ASH Berlin am 30. Januar 2025 mit Yuval Rahamim und Wajih Tmaiza Fawzeya zwei Männer, die sich beim „Parents Circle – Families Forum“ (PCFF) engagieren. Das PCFF ist eine einzigartige Organisation, die sich aus mehr als 800 israelischen und palästinensischen Familien zusammensetzt, die durch den Konflikt einen Angehörigen verloren haben.

Der Audimax, in dem die beiden zu ihrem Plenum sprechen, war Anfang Januar von Pro-Palästina-Aktivist_innen besetzt worden, wodurch der Konflikt im Nahen Osten noch einmal eine andere Aufmerksamkeit, aber auch andere Dringlichkeit in der Hochschule erfuhr.

Zu den Personen: Yuval Rahamim war acht Jahre alt, als er am zweiten Tag des Sechstagekriegs seinen Vater verlor. Statt den Tod seines Vaters zu rächen, erkannte er, dass Versöhnung die Lösung sein muss. Ebenso wie sein Kollege, der Geschäftsmann Wajih Tmaiza Fawzeya. Der Vater von fünf Kindern verlor 1990 seinen Bruder Hazem, als er erst 13 Jahre alt war und im Jahr 2001 drei seiner Cousins. Der Aktivist und Menschenrechtsverteidiger trat dem israelisch-palästinensischen Forum im Jahr 2010 bei und nahm im Laufe der Jahre an vielen PCFF-Dialogprogrammen sowie Treffen zwischen Israelis und Palästinensern teil.

In einführenden Worten betont Mit-Organisatorin María do Mar Castro Varela, dass mit den beiden Vertretern des PCFF „nicht nur laute Stimmen zu hören sein sollen”, wie sie sagt, „sondern auch die leisen Stimmen derer, die versuchen, am Boden etwas zu ändern.“

Der Nachmittag ist mit dem Thema „Holding on to Humanity – Shared Grief, Shared Hope: How Do We Heal?” (übersetzt: „An der Menschlichkeit festhalten – Geteilte Trauer, geteilte Hoffnung: Wie können wir heilen?”) überschrieben. Dieser Frage gehen die beiden eben nicht nur auf der individuellen Ebene nach. Sie versuchen, ein Verständnis für den jeweils unbekannten Menschen zu entwickeln, den viele als Feind betrachten. Dabei „ähneln sich alle Geschichten“, weiß Rahamim. „Jeder hat jemanden verloren. Man muss verstehen, dass der Schmerz auf beiden Seiten derselbe ist. Wir wollen daraus eine Solidarität aufbauen und entwickeln.“ Mit dem PCFF haben sie unterschiedliche Tools entwickelt, um zu „versuchen eine Brücke über dieses Bluttal zu bauen“, wie es Wajih Fawzeya drastisch beschreibt.

Da ist zum einen der Joint Memorial Day, am Tag vor dem israelischen Nationalfeiertag wird an die Opfer gedacht, die der Krieg brachte. Die Idee des PCFF ist es, nicht die Kriegshelden zu feiern, sondern den Opfern zu gedenken. Sie wollen eine Veranstaltung, die eine Alternative aufzeigt, die „die Regierung versucht zu verhindern“, wie Rahamim berichtet. Jedoch: „Jedes Jahr kommen mehr Menschen, die eine Veranstaltung bevorzugen, die für Hoffnung und Frieden steht.“

Das zweite Erfolgsformat des PCFF sind Schulbesuche. Bei diesen Dialog-Meetings gehen sie mit Schüler_innen der 11. und 12. Klasse in Gespräche. Sie schätzen, dass sie mittlerweile circa 250.000 Schüler_innen auf diesem Wege erreicht haben.
Der Ansatz ist simpel wie eindrücklich: „Es geht darum, einen Eindruck von der anderen Seite zu vermitteln“, erklärt Rahamim, denn: „Jeder in Israel hat eine Geschichte wie meine, aber niemand hat die Geschichte der Palästinenser gehört.“ Schüler_innen dieses Alters sollen ein Jahr später mit dem Militärdienst beginnen. Das Ministerium wollte und will die Schulbesuche verbieten, Gesetze wurden deshalb verabschiedet, aber der PCFF hat dagegen geklagt und gewonnen. „Es ist ein Kampf um Bildung“, betont er. „Israel versucht ein Bild von Terroristen zu zeichnen, aber wir sind nicht gegen etwas, nicht gegen Israel oder Palästina, wir sind für den Frieden.“ Wajih Fawzeya führt weiter aus, dass es „Palästinenser gibt, die nicht wissen, dass es in Israel nicht nur Soldaten und Siedler gibt.“

Beide versuchen konsequent mit ihrer Graswurzelarbeit dem Frieden einen Boden zu bereiten. Jedoch lassen sie durch Einblicke in ihr nahes Umfeld Schwierigkeiten erkennen, aber eben auch, wie sie diesen begegnen. Fawzeya berichtet, dass einer seiner Brüder nicht daran glaubt, dass das was er unternimmt Frieden bringen könnte. Er berichtet, wie er Israelis zum Essen einlädt und mit ihnen im Garten isst, „damit es jeder sehen kann“, wie er sagt. „Ich wünsche allen Israelis ein Leben in Sicherheit.“ Gefragt nach einer Vision für die Zukunft, wünscht er sich eine „Welt ohne Grenzen“.
Sein Freund Yuval Rahamim denkt an Europa und dessen Geschichte als Vorbild. „Dort sind im letzten Jahrhundert viele Menschen gestorben, aber Europa hat das überwunden und man kann dort heute grenzenlos reisen“, erinnert er und verweist mit Blick auf den unmöglich scheinenden Frieden zwischen Israel und Palästina auf einen anderen Konflikt der Region: „Auch Israel und Ägypten bekamen Frieden zustande. Ich wünsche mir einen Mittleren Osten, der wie Europa funktioniert.“ Den Anfang müsse die israelische Gesellschaft machen, „die muss sich verändern“, findet er. „Wir als Israel sind stärker und damit tragen wir die Verantwortung“, führt er aus, bemängelt aber, dass das Land „schwache Führer“ habe, „die nicht dazu bereit sind, sich unter der Prämisse zusammenzusetzen, dass kein Leben mehr vergeudet wird. Niemand gewinnt hier. Der einzige Sieg ist der Frieden.“  
„Wir verlieren die Hoffnung nicht“, ergänzt Wajih Fawzeya, den die Worte bewegen.

Wieder einer dieser Momente, die die vier Veranstaltungen in Reihe produzieren. Es sind starke, mutige Kämpfer_innen für den Frieden wie die Gäste der Vorlesungsreihe, die den Weg nach Berlin und Hellersdorf auf sich nehmen. Im Fall des Palästinensers Wajih Fawzeya eine Reise, die ihn vier Tage kostete, weil er unzählige israelische Checkpoints passieren musste, während sein Freund Yuval Rahamim innerhalb weniger Stunden aus Israel nach Berlin fliegen konnte. Das ist natürlich ungerecht und falsch... und doch spenden die beiden, genau wie die anderen Gäste, Hoffnung und Mut!

Text: Denis Demmerle

Die Reihe „Zivilgesellschaftliches Engagement in Israel/Palästina. Stimmen gegen die Perspektivlosigkeit“ wurde von Vered Berman (Parents Circle Friends Deutschland e. V.), Prof. Dr. María do Mar Castro Varela und Prof. Dr. Bettina Völter für die ASH Berlin im Wintersemenster 2024/25 organisiert, den Anstoß zur Reihe gab Dikla Levinger.