Anlässlich des Europäischen Protesttags zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung veranstaltete die ASH Berlin zusammen mit dem Institut Behinderung & Partizipation (IB&P) des Allgemeinen Behindertenverbands in Deutschland (ABiD) am 6. Mai 2025 eine öffentliche Podiumsdiskussion. Das Thema der Veranstaltung war: „Neustart Inklusion – Was erwarten wir von der neuen Bundesregierung?“.
Nach einem einleitenden Grußwort von Prof. Dr. Bettina Völter, Präsidentin der ASH Berlin, diskutieren Expertinnen und Experten aus Politik und Zivilgesellschaft über die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland und Europa. Auf dem Podium vertreten waren Prof. Dr. Sigrid Arnade (Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland – ISL), Marcus Graubner (Vorsitzender des ABiD), Dr. Karsten Lippmann (Vorsitzender des IB&P) sowie Prof. Dr. Rebecca Maskos (Disability Studies, ASH Berlin).
Hier folgen nun von den Podiumsteilnehmenden selbst formulierte zusammenfassende Ausführungen.
Lippmann: Hoffnungsvolle Skepsis
Für Dr. Karsten Lippmann „stand der Tag ungeplanter Weise im Zeichen der neu beginnenden Kanzlerschaft, da just an diesem Nachmittag Friedrich Merz vom Parlament zum Kanzler gewählt wurde und Sören Pellmann (Vorsitzender der Bundestagsfraktion Die Linke) daher nicht an der Podiumsdiskussion teilnehmen konnte“. Gemessen am Text des Koalitionsvertrages sieht er Grund zur „hoffnungsvollen Skepsis“. „Das Podium war sich ja einig, dass die Inklusion keinen "Neustart" benötigt, sondern überhaupt erst einmal einen Start. Wenn dem so ist, ist es die Aufgabe aller Beteiligter, das Thema konstruktiv voranzubringen. Allerdings muss man doch skeptisch sein, ob der Koalitionsvertrag hierfür eine gute Grundlage bietet: Zu sehr wird darin mit vagen Absichtserklärungen zum Thema Inklusion operiert. So kann es z.B. positiv gesehen werden, dass die Koalitionäre sich positiv auf die UN-BRK beziehen. Negativ ist es aber, wenn sie, wenig später, WfbM (Werkstätten für behinderte Menschen) und Wohnheimen Zugang zu Fördergeldern aus dem IKF versprechen. Das widerspricht eklatant dem Ziel Inklusion und damit der UN-BRK.“
Arnade: Keine gutgemeinte Empfehlung, sondern geltendes Recht
Prof. Dr. Sigrid Arnade stimmte dem bei: „Es kann nicht um einen Neustart Inklusion gehen, solange es keinen Erststart Inklusion gegeben hat. Auf den warten wir bislang vergeblich, obwohl Deutschland sich vor über 16 Jahren mit der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) dazu verpflichtet hat. Schließlich handelt es sich bei der UN-BRK nicht um eine gutgemeinte Empfehlung, sondern um geltendes Recht. Nicht nur wir als betroffene Menschen sind enttäuscht von dem weitgehenden Stillstand in Sachen Inklusion. Bei der letzten Staatenprüfung Deutschlands vor dem UN-Fachausschuss in Genf im Frühherbst 2023 zeigten sich auch die Ausschussmitglieder empört darüber, dass so ein reiches Land wie Deutschland so wenig unternimmt, um den Vorgaben der UN-BRK gerecht zu werden. Entsprechend enthalten die "Abschließenden Bemerkungen", die sozusagen den Prüfbericht oder die Hausaufgaben für die kommenden Jahre darstellen, klare Forderungen an Deutschland: Auch private Anbieter_innen von Waren und Dienstleistungen müssen zur Barrierefreiheit und zu angemessenen Vorkehrungen verpflichtet werden. Der Gewaltschutz, insbesondere von behinderten Mädchen und Frauen, soll verbessert werden. Vor allem muss ein Schwerpunkt auf die Deinstitutionalisierung, also den Abbau von Sondereinrichtungen, in den Bereichen Wohnen, Bildung und Arbeit gelegt werden.
Was wir in Deutschland erleben, ist das Gegenteil: Förderschulen werden neu errichtet. Solange das teure Förderschulsystem aufrechterhalten wird, können nicht genügend Ressourcen für einen guten inklusiven Unterricht bereitstehen. Der neue Koalitionsvertrag, der nur wenige, schwammige Aussagen zur Inklusion enthält, wird konkret, wenn es um Exklusion geht: Gelder aus dem Ausgleichsfonds sollen für Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) und Wohneinrichtungen, also für Exklusionsstrukturen zur Verfügung gestellt werden. Wir sind also mehr damit beschäftigt, dem Rückschritt entgegenzuwirken als wegweisende Initiativen Richtung Inklusion starten zu können. Mit der UN-BRK ist das menschenrechtliche Modell von Behinderung eingeführt worden. Studierende der ASH Berlin sollten die Unterschiede zwischen dem medizinischen, dem sozialen und dem menschenrechtlichen Modell von Behinderung verstehen und sich mit ihrer eigenen künftigen Rolle auseinandersetzen. Dabei ist das Thema Macht im Verhältnis zwischen behinderten Menschen und Professionellen der Sozialen Arbeit von entscheidender Bedeutung.“
Maskos: Inklusion als Menschenrechtsthema
Prof. Dr. Rebecca Maskos ergänzte: „Zentrale Forderungen, die die Behindertenbewegung seit Jahrzehnten stellen, sind im Koalitionsvertrag nicht aufgenommen worden. Es scheint, als sei die Relevanz des Themas Behinderung völlig ignoriert worden bei den Koalitionsverhandlungen. Dieses Dethematisieren von Behinderung ist nicht neu. Oft werden behinderte Menschen als "die Anderen" konstruiert, als eine kleine Minderheiten- oder Randgruppe mit Bedürfnissen und Anliegen, die die Mehrheit nicht betreffen. Dies verkennt, dass erstens behinderte Menschen eine recht große "Randgruppe" sind - mindestens jede zehnte Person einer Gesellschaft hat eine Beeinträchtigung, in Deutschland sind es mit aktuell 13 Millionen sogar mehr. Zweitens ignoriert diese Vorstellung, dass Behinderung uns im Lebenslauf früher oder später alle betrifft, spätestens im Alter. Themen wie Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft, Gewaltschutz in Einrichtungen oder inklusiver Katastrophenschutz in Zeiten des Klimawandels sollten uns alle interessieren, im Koalitionsvertrag kommen sie jedoch nicht oder nur unzureichend vor.
Die ASH Berlin vertritt mit den Disability Studies einen Ansatz, der Behinderung aus der Perspektive eines sozialen Modells diskutiert und damit Inklusion als Menschenrechtsthema und als wirkliche Querschnittsaufgabe adressiert. Forschung und Lehre, die die Erfahrungen behinderter Menschen einbeziehen, unterstützen eine Sensibilisierung künftiger Fachkräfte. Weitere Hochschulen sollten diesem Beispiel folgen, auch in Studiengängen, die zunächst nichts mit dem "Sozialen" zu tun haben, aber für das Thema Behinderung hochrelevant sind - beispielsweise Architektur, Medizin und Rechtswissenschaften.“
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Wer sich intensiver mit der UN-BRK beschäftigen will, sollte sich auch die Schattenübersetzung vom NETZWERK ARTIKEL 3 e.V. als das offizielle deutsche Dokument ansehen.