Im Interview zum Forschungsprojekt „Dann stellt man sich mal vor, man sperrt mich ... in ein Altenheim“ spricht Prof. Dr. Silke Birgitta Gahleitner über übermächtige Angst, Phasen der Amnesie, die auf intensive Forschung folgen und darüber, warum Missbrauch kein Unglück, sondern Unrecht ist…
Frau Gahleitner, mit dem Projekt „Dann stellt man sich mal vor, man sperrt mich ... in ein Altenheim“ knüpfen Sie an das Projekt „Testimony – Erfahrungen in DDR-Kinderheimen. Bewältigung und Aufarbeitung“ (2019 bis 2022) an. Hatte sich das Thema schon im Forschungsprozess als Anschlussthema aufgedrängt?
Prof. Dr. Silke Birgitta Gahleitner: Genau das war der Fall. In den 20 Interviews, die wir damals geführt haben, wurde immer wieder deutlich, dass nach Gewalterfahrungen in institutionellen Kontexten die Angst und Sorge, wieder machtmissbräuchlichen Mitarbeiter_innen einer Einrichtung hilflos ausgeliefert zu sein, geradezu übermächtig ist. Nicht umsonst haben wir das Projekt mit einem Zitat eines Interviewpartners überschrieben: „Dann stellt man sich mal vor, man sperrt mich ... in ein Altenheim“.
Das Zitat geht noch weiter. Im Falle dieses Falles fürchtet er nämlich selbst gewalttätig zu werden. Er veranschaulicht das recht lebendig: „So viele Nachtschränke gibts gar nicht, und so viele Türen gibts nicht, wie die brauchen“, beschreibt er im Interview. Wir haben insgesamt damals zehn Einzelfälle aus den 20 Interviews herausgearbeitet und die restlichen zehn in einen Gesamtvergleich eingearbeitet, aber das Thema kam wieder und wieder vor. Nicht ausführlich, weil des damals nicht zu unseren zentralen Fragestellungen gehört hat, aber es wurde ausdrücklich von vielen Betroffenen angesprochen
Die Dokumentation dieses Unrechts blieb lange unbeachtet und fand erst in den letzten Jahren, auch dank Ihrer Arbeit, die notwendige Beachtung. Wie kommt das?
Die Aufarbeitung von Gewalttaten und Gewaltstrukturen ist ja keineswegs ein Lieblingsthema unserer Gesellschaft. Judith Lewis Herman, Autorin des lesenswerten Buches „Die Narben der Gewalt“, leitet dieses Buch mit der Bemerkung ein, dass die Diskurse über Gewalt eine eigenartige Struktur aufweisen. Dass nämlich auf Zeiten intensiver Forschungs- und Publikationstätigkeiten immer wieder auch Phasen der Amnesie, also des Verbergens und Verleugnens folgen, sodass die Erkenntnisse immer wieder jeweils nahezu neu erarbeitet werden müssen.
In der Rezeption und Erforschung sexualisierter Gewalt kann man dies gut beobachten, das hat auch Andrea Pohling kürzlich mit einem Artikel nochmals herausgearbeitet. Auf Bemühungen, sexualisierte Gewalt zu thematisieren, folgten daher auch immer wieder Versuche, Opfer für unglaubwürdig zu erklären. 1990 ging es unter dem Kampagnentitel ‚Missbrauch mit dem Missbrauch‘ um Missbrauch in der Familie, später wurde organisierte Gewalt angezweifelt, bis Polizeiberichte diese bestätigten, und aktuell wird sexualisierte Gewalt mit rituellem Charakter infrage gestellt.
Jahre bevor der Skandal des Canisius-Kollegs in die Medien kam, gab es bereits einen Bericht in der Frankfurter Rundschau zur Odenwaldschule. Er wurde damals einfach nicht aufgegriffen. Und für ehemalige Heimkinder, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, gilt dieses Schweigen nochmals in doppelter Hinsicht, denn sie sind häufig auch nachhaltig finanziell und von ihren Bildungschancen her geschädigt worden und es ist herausfordernd für viele von ihnen sich zu artikulieren.
Betroffene unterscheiden aufrichtiges Bemühen um Aufarbeitung von sinnlosen Mitleidsbekundungen und leeren Worthülsen
Die Menschen, deren Menschenrechte verletzt wurden, anstatt ihnen Fürsorge entgegen zu bringen und sie zu unterstützen, haben lange selbst und ohne Unterstützung Strategien der Bewältigung entwickelt, weil Sie das mussten. Lässt sich das - wenn überhaupt - wiedergutmachen?
Ich erinnere mich an einen Interviewpartner, der dazu sagt: „Kann man nicht, kann man nicht, egal mit welchen Summen“. So ist es auch. Aber das bedeutet nicht, dass man nichts tun kann. Ich habe die Betroffenen immer wieder so erlebt, dass sie ein aufrichtiges Bemühen um Aufarbeitung sehr gut von sinnlosen Mitleidsbekundungen und leeren Worthülsen unterscheiden können. Dieses Bemühen aber ist ziemlich anspruchsvoll: Neben Unterstützung zur individuellen Bewältigung benötigt es dafür eine Auseinandersetzung der beteiligten Institutionen und der Gesellschaft bzw. des Staates, wie Heiner Keupp dies für Aufarbeitungsprozesse beschrieben hat. Gewalttaten auf die Betroffenen hin zu individualisieren ist nicht die Lösung. Gewalt und gewaltunterstützende Strukturen sind ein gesellschaftliches Problem und daher brauchen die Betroffenen auch die Gesellschaft solidarisch an ihrer Seite. Aufarbeitung ist daher zwar nicht gleichzusetzen mit rechtsstaatlichem Vorgehen gegen Unrecht, jedoch auf jeden Fall beteiligt an der gesellschaftlichen Definition von Unrecht. Aufarbeitung verschafft individuellen Bewältigungsprozessen einen gesellschaftlichen Rahmen für die Übernahme von Verantwortung, die Anerkennung von Leid und Unrecht sowie die Überwindung des Unrechts in Zukunft, wie Sabine Andresen das an vielen Stellen schreibt. Und Betroffene wissen es ganz ausdrücklich zu schätzen, wenn sie hier Anerkennung und einen betroffenengerechten Diskurs verspüren.
Mit dem Alter sehen sich viele derer einer drohenden Wiederholung von Trauma-Erfahrungen ausgesetzt, Altenheime als Orte der Versorgung und Unterstützung, wirken nach den gemachten Erfahrungen sicher bedrohlich. Welche Gesichtspunkte sind bei der Erforschung besonders oder auch sensibel zu beachten?
Betroffene von Gewalt in Institutionen sehen sich der Gefahr von Retraumatisierung nicht nur subjektiv ausgesetzt, es besteht ganz real die Gefahr, dass sich Situationen von Ohnmacht und Hilflosigkeit wiederholen, gar nicht zu sprechen von Gewaltübergriffen, die in Heimkontexten geschehen können und auch geschehen. Insofern sind eine Reihe von risikoreichen Aspekten bei der Durchführung des Forschungsprojekts zu Versorgungsmöglichkeiten und -gefahren ehemaliger Heimkinder im Alter zu beachten.
Wir haben von der Ethikkommission auch trotz eines bereits ausführlichen Antrags nochmals eine Reihe hilfreicher Hinweise bekommen. Neben einer Risikoanalyse, also was bei den Interviews alles an ethischen Gesichtspunkten zu beachten ist, haben wir Maßnahmen exploriert, die wir ganz konkret zur Verfügung stellen können, falls in den Interviews schwierige Situationen für die Interviewten entstehen. Ich muss allerdings aus meiner Erfahrung sagen – und diese Erfahrung knüpft an noch erfahrenere Forscher_innen wie Dan Bar-On an – dass ich in nach den vielen, vielen Interviews, die ich in sehr sensiblen Bereichen mit meinen Teams durchgeführt habe, nur äußerst selten ausdrücklich negative Effekte zurückgemeldet bekommen habe. Meist überwiegt eher die Erleichterung, die eigenen Geschichte nochmals erzählt zu haben und ‚etwas losgeworden zu sein‘. Ausdrücklicher Dank geht dabei und an vielen Stellen dieses Interviews an mein qualifiziertes Forschungsteam, ohne das die Umsetzung gar nicht möglich wäre!
Es handelt sich definitiv um Unrecht
Was könnten die Ergebnisse für die Gesellschaft bedeuten?
Ich denke, die Gesellschaft trägt einen großen Teil der Verantwortung für die Gewalttaten, die in den damaligen Heimen passiert sind und Menschen nachhaltig für ihr ganzes weiteres Leben geschädigt haben. In der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, der ich angehöre, ist uns wichtig, dass es sich hierbei nicht etwa um Unglück handelt, sondern es handelt sich definitiv um Unrecht. Das daraus entstandene Leid muss daher nicht nur anerkannt werden, sondern es muss darum gehen, die Verantwortung dafür zu übernehmen und die wirkmächtigen Strukturen, die Unrecht ermöglichen, zu überwinden.
Wie wird das in anderen Ländern gelöst?
In Österreich z. B. gab es einen interessanten und eindrucksvollen Versuch der Wiedergutmachung: Auf höchster politischer Ebene fand ein Staatsakt im Parlament mit den Betroffenen gemeinsam statt, in dem sich hochrangige Politiker_innen bei den Betroffenen für das, was geschehen ist, entschuldigt haben. Ich habe eine Zeit lang in Österreich geforscht und mich gewundert, warum die ‚Heimkinderfrage‘ dort einen etwas anderen Verlauf als bei uns genommen hat. Ich denke, das hat etwas mit der Ernsthaftigkeit der Versuche zu tun, die dort gestartet wurden, das Geschehen aufzuarbeiten. Das werden wir mit diesem kleinen Forschungsprojekt nicht bewirken können. Aber vielleicht gelingt es uns, in Einrichtungen der Altenpflege eine andere Grundhaltung anzuregen.
„Wir beziehen Betroffene in den Forschungsprozess ein“
Was könnte die Forschung für die Betroffenen bedeuten?
Ich habe die Hoffnung, dass diese veränderte Grundhaltung einen Umgang mit Betroffenen begünstigt, wo sie nicht einfach verwaltet oder gar diskriminiert und stigmatisiert werden statt ihnen zu helfen, die traumatischen Sequenzen im Alter zu integrieren. Da ich im letzten Projekt erfahren habe, dass für die Betroffenen eben diese Grundhaltung von umgebenden Personen und der Gesellschaft von so großer Bedeutung ist, hoffe ich, dass sich diese Bemühungen positiv für die Betroffenen selbst auswirken. Wir interviewen ja nicht nur Betroffene für das Projekt, wir beziehen Betroffene auch in den Forschungsprozess über einen begleitenden Beirat und tatkräftige Unterstützung ein.
Neben der Hoffnung auf eine Haltungsänderung in manchen Fachkräften der Arbeit mit alten Menschen und dem Ergebnis traumagerechter Konzepte in diesem Bereich würde ich mich daher auch freuen, wenn an verschiedenen Stellen der Beteiligung an der Entwicklung der Ergebnisse auch Empowermentaspekte für die Beteiligten dabei möglich werden würden. So etwas kann man nicht erzwingen, sondern es muss entstehen. Aber wenn ich an unser Vorgängerprojekt ‚Testimony‘ denke, haben wir ganz besonders an diesen Aspekten damals sehr viel Freude gehabt. Konkrete Anregungen dazu erwarte ich mir nach den ersten Beiratssitzungen, in denen wir Vorschläge Betroffener und anderer Professioneller aufnehmen wollen.
Das Forschungsvorhaben wird von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gefördert. Diese untersucht seit 2016 Ausmaß, Art und Folgen der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der Familie, in Institutionen und organisierten Kontexten. Was erhoffen Sie in naher und auch ferner Zukunft von der Arbeit der Kommission?
Ich habe ja viele Jahre und mit viel Leidenschaft als Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin mit traumatisierten Mädchen und Frauen in einer sozialtherapeutischen Einrichtung und in freier Praxis gearbeitet – und in der Folge zu den Themen Trauma, Bindung und Beziehung hier bei uns an der Alice Salomon Hochschule Berlin geforscht. Bereits meine Forschungs- und Publikationsprojekte beleuchten vielfach Gewaltverhältnisse aus der Sicht Betroffener, um ihnen über die Forschung eine Stimme zu verleihen und herauszufinden, was im Bewältigungsprozess noch unterstützend sein könnte.
Forschungsergebnisse haben jedoch immer einen begrenzten Wirkungsgrad und man hastet ein wenig von einem zum nächsten Projekt. Ich habe schon lange gedacht, man müsste systematisch etwas machen, nicht nur punktuell. Als ich die Kommission kennengelernt habe, hat mich das fasziniert. Endlich kommt eine zentrale Hand, die versucht systematisch den Betroffenen bessere Bedingungen zu bieten, um sich zu öffnen, über die Gewalterfahrungen zu sprechen und Hilfe und Unterstützung zu finden. So wird ein Klima erzeugt, in dem sie sich besser aufgehoben fühlen und wo sie Solidarität und Anerkennung erfahren für das, was sie geschafft haben. Das macht mir einfach Freude. Ich führe viele Anhörungen durch, die das Zentrum der Tätigkeit in der Kommission darstellen. Das bedeutet, wir sprechen mit Betroffenen in einem sicheren, geschützten und vertraulichen Rahmen. Unsere Erkenntnisse daraus tragen wir z.B. in Form von Berichten oder öffentlichen Veranstaltungen in die Gesellschaft, um zu informieren, aufzuklären und Aufarbeitung voranzutreiben.
Ich glaube, dass es wichtig ist, über Forschung noch mehr zu verstehen und noch mehr Möglichkeiten zu entwickeln, die individuelle und gesellschaftliche Aufarbeitung zu unterstützen. Das zeichnet die Kommission aus, und das ist auch meine Aufgabe im Hochschulbereich. Insofern verstehe ich die Arbeit in der Kommission als klassisches Feld der ‚Third Mission‘ und arbeite da sehr gerne, weil ich das Gefühl habe, ich kann etwas bewegen. Das geht natürlich nicht alleine und daher möchte ich an dieser Stelle auch meinem ganzen Forschungsteam und den Kolleg_innen aus der Kommission danken.
Die Fragen stellte Denis Demmerle.
Zum Projekt:
„Dann stellt man sich mal vor, man sperrt mich ... in ein Altenheim“: Versorgungsmöglichkeiten und -gefahren ehemaliger Heimkinder im Alter
Laufzeit des Vorhabens: 01.08.2024 bis 31.07.2026
Partner: Keine.
Weitere Infos zu „Testimony – Erfahrungen in DDR-Kinderheimen. Bewältigung und Aufarbeitung“ (2019 bis 2022) und bei tageschau.de der Beitrag „Gewalt und Vernachlässigung im Heim“.