Rezension von Luisa Ortiz:
Zu den Klängen eines traditionellen türkischen Liedes von Haci Cirik führt uns die Kamera durch die einladenden Straßen Bademlers, an Cafes vorbei und über einen Marktplatz, auf dem die angekommene Reisegruppe aus Berlin ihre anstehende Aufführung ankündigen lassen. Die meisten der Menschen, die hier in dem kleinen Dorf Bademler in der Nähe von Izmir wohnen, verbinden ganz persönliche Erfahrungen mit Theater, da sie selbst in ihrer Freizeit die Bühne des stadteigenen Theaters bespielen. Die liberale Stimmung im Ort verdanke Bademler dem einst durch einen pensionierten Lehrer gegründeten Theater, welches den Menschen unterschiedlichster Generationen als Bildungsstätte und Ort der Zusammenkunft dient. „Theater ist so vieles: Eine Grundschule, Fachhochschule, Universität, eine Volksschule“ (Bewohner Bademlers). Berühmte türkische Autor_innen hätten ihre Stücke nach Bademler geschickt, um sie dort aufführen zu lassen.
Hier dürfen die „Bunten Zellen“ des Theaters der Erfahrungen aus Berlin, bestehend aus deutschen und türkischen Menschen aus der Kriegs- und sogenannten Gastarbeiter_innengeneration, ihre Erinnerungen an persönliche prägende Momente im Kontext von Migration auf die Bühne bringen. Johanna Kaiser, Prof.in für Soziale Kulturarbeit mit dem Schwerpunkt Theater an der ASH, ist Regisseurin des Stückes „Allet janz anders, aber so verschieden nu ooch wieder nicht“.
Dabei teilen viele zurückgekehrte Anwohner_innen Bademlers die Erfahrungen türkischer Arbeiter_innen im Deutschland der 60er Jahre. Auch die deutschen Kriegskinder kennen durch die sogenannten Landverschickungen das Gefühl, von ihrer Familie getrennt zu werden. Deshalb ist es ein ganz besonderer Moment, als Fatma Ülker auf der Bühne als türkische Mutter ihre Kinder verabschiedet, um alleine nach Deutschland zu gehen. Kurz danach wird das Schicksal der kleinen Ruth Böttge gezeigt, die zu ihrer Tante aufs Land gebracht wird, weil Berlin am Kriegsende zu unsicher wurde. Die Darsteller_innen können in die Rolle ihres früheren Ichs schlüpfen und dadurch auch als eine Art therapeutische Verarbeitung ihre Erfahrungen nochmal durchleben: „Du bringst dein Leben auf die Bühne.“ (Fatma Ülker)
Die Szenen bringen lang zurückliegende Erinnerungen an die Oberfläche, und regen zum Austausch nach dem Stück an.
Zwischendurch kontextualisieren die Mitglieder der „Bunten Zellen“ in Interviews ihre Darstellungen und erzählen die persönlichen Hintergründe der Szenen. Atiye Altül berichtet von diesem „Hotelzimmer-Gefühl“, was sie noch Jahrzehnte nach ihrer Migration nach Deutschland hatte: Nicht richtig hier sein, nicht richtig dort sein – ein Gefühl wie auf einem langen Korridor zwischen zwei Ländern, zwei Lebensrealitäten. Erst nach 15 Jahren hat sie sich bewusst dazu entschieden, in Deutschland anzukommen und zu bleiben. Menschen aus Bademler erzählen wiederum von der Entscheidung zurückzukehren: „...Deutschland war nichts für mich...Ich konnte mich nicht daran gewöhnen.“ (Ibrahim Togan) Im Nachgespräch wird der Rassismus gegen Türk_innen in Deutschland kurz angeschnitten, thematisch nicht weiter vertieft. Im Fokus bleiben die Gefühle zu Migration, die sich jedoch nie von den Rassismus- und Klassismuserfahrungen trennen lassen.
Das Format und die Authentizität des Stückes scheint viele Zuschauer_innen zu bewegen. Aber auch die Darsteller_innen schätzen den zweiseitigen Austausch mit dem Publikum: „Was wir ihnen geben, kriegen wir auch von ihnen zurück!“ (Atiye Altül) Nicht zuletzt das fortgeschrittene Alter, die Bikulturalität und die Vertrautheit zwischen den Mitgliedern durch die langjährigen Schauspielbeziehungen machen das Stück zu einer ganz besonderen Theatererfahrung. Das wird in dem halbstündigen Film deutlich.
„Theater ist meine Heimat - Filmische Erforschung eines transnationalen Austauschs im Kontext von Migration“ (Kaiser 2017) zu sehen unter:
Rezension von Gerd Koch:
2014 hatte ich das Vergnügen – und auch die Mühe – zusammen mit Ass.-Prof. Dr. Ömer Adıgüzel (Ankara), Ute Handwerg (Bundesarbeitsgemeinschaft Spiel & Theater e. V., Hannover) ein zweisprachiges Handbuch herauszugeben: „Theater und community – kreativ gestalten! / Drama ve Toplum – Yaratıcı Biçim Vermek! Deutsch-Türkische Kooperationen in der Kulturellen Bildung / Kültürel Eğitim Alanında Türk-Alman İş Birliği. München 2014 (Schriftenreihe Kulturelle Bildung, Band 42), 485 Seiten. Darin befindet sich auch ein Beitrag der ASH-Professorin Johanna Kaiser zu einem transnationalen Kulturaustausch Berlin – Bademler (S. 303 ff.: „Alles ganz anders - aber so verschieden nu ooch wieder nicht“; S. 307 ff. “Her şey farklı – Ama o kadar da değil!”).
Ich zitiere daraus etwas ausführlich und sage schon hier: Warum. Warum? Weil jetzt der 40minütige Film zum Aufsatz herausgekommen ist – siehe unten. Aber zuerst: Worum geht es (Kursiv: O-Ton Aufsatz Johanna Kaiser):
Der Auftritt der Bunten Zellen (Altentheatergruppe des Theaters der Erfahrungen Berlin) soll ein Höhepunkt des transnationalen Kulturaustausches werden und bildet den Abschluss unserer fünftägigen Forschungsreise.
Die Konstellation in dieser Unternehmung ist außergewöhnlich: Beteiligt sind
a) die Theatergruppe ‚Bunte Zellen‘ aus Berlin, deren Theater sich aus sozial- und gesellschaftspolitisch relevanten Themen speist, die über Improvisation kollektiv erarbeitet und von deutsch-deutschen und türkisch-deutschen Theaterspielerinnen und -spielern im Alter von 65–82 Jahren auf die Bühne gestellt werden,
b) eine Gruppe von Studierenden der ASH Berlin, die (…) transkulturelle() Prozesse und ästhetische() Verarbeitungsformen von Migration erforschen und
c) Protagonistinnen und Protagonisten aus Bademler (TR), die Theater spielen oder spielten und größtenteils einige Jahre in Deutschland gearbeitet und gelebt haben.
(…) die Bedeutung des Theaterspiels, die besondere Form hier in Bademler im Kontext von Migration soll erforscht, die Begegnung anlässlich des Gastspiels dokumentiert und transkulturelle Prozesse sowie die Kontextualität der Theaterarbeit im gesellschaftlichen Diskurs sollen ermittelt werden (…).
(…) Ziel der Reise ist eine intensive filmische Auseinandersetzung mit Identitäten, Auswirkungen von Migration in den Biografien der Menschen sowie mit Formen von künstlerischen Verarbeitungsmöglichkeiten von Migrationserfahrungen (...)
Mit der Kamera ausgerüstet brauchen die Studierenden nicht lange zu warten (...) Neugierig und offen, aufgeschlossen und interessiert gehen die Menschen auf der Straße oder im Café auf uns zu, voller Stolz präsentieren der Bürgermeister und der Theaterverein die Besonderheit dieses Dorfes und dessen Theatergeschichte (..). Diese hatte ihren Anfang in den 20er-Jahren, als ein Lehrer begann, mit der ‚aufsässigen‘ Dorfjugend Theater zu machen. Die Eltern mischten sich ein, auch sie wollten auf die Bühne! „Wir sind nicht lange zur Schule gegangen damals“, berichtet ein alter Mann. „Wir lebten von der Hacke, von harter Arbeit. Aber da haben wir uns gedacht, wo können wir noch ein bisschen weiter lernen? Am besten im Theater!“ Von nun an gab es jährlich Premieren, das halbe Dorf beschäftigte sich mit Rollenarbeit, Stücke schreiben, Plakate malen, Kostüme nähen (…), ein richtiges Theater musste her. Und sie bauten es sich.
Jetzt (2016) ist der 40minütige Film unter dem Titel „Theater ist meine Heimat“ (deutsch, englisch untertitelt) erschienen. Am 3.12. 2016 wurde er unter Mitwirkung von aktuell an der ASH Studierenden im Nachbarschaftsheim Berlin-Schöneberg vor großer, anteilnehmender Zuhörerschaft vorgestellt. Protagonist_innen des Filmgeschehens waren anwesend. Eine Fotoausstellung aus der studentischen Exkursion erweiterte die Eindrücke. Begleitet wurde die Premiere durch einem Kurzvortrag von Ramazan Akzoy („Brücke der Völker“ / „Halk Köprü“) aus Izmir zum ehrenamtlichen Engagement in der Flüchtlingshilfe an der Ägäis / Ak Deniz.
Der Film zeigt überzeugend, dass Theater ein mehrperspektivischer Lern- und Erfahrungsort ist und Theater-Machen eine sozial-ästhetische, eingreifende Produktionsweise. Es können dadurch Expert_innen fürs Theater-Leben und fürs Lebens-Theater entstehen.
Aber, mit dem Theatermacher Bert Brecht gesagt: „Erst wenn die Produktivität entfesselt ist, kann Lernen in Vergnügen und Vergnügen in Lernen verwandelt werden“ – das ist hier geschehen, wie der Film deutlich und anschaulich belegt. Und noch eine ‚Autorität‘ füge ich an – wegen des schön Gedachten / Gesagten, nicht aus Autoritätshörigkeit:
In den sog. Pariser Manuskripten von Karl Marx heißt es korrespondierend mit dem Brecht‘schen Satz: „In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts hätte ich unmittelbar den Genuß, sowohl des Bewußtseins, in meiner Arbeit ein menschliches Bedürfnis befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenständlicht und daher dem Bedürfnis eines andren menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft zu haben (…) Unsere Produktionen wären ebenso viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegenleuchtete.“