Covid-19-Pandemie Covid-Pfleger_innen erzählen

„Wir sind für unsere Covid-Patient_innen in ihren letzten Stunden auch Seelsorger_innen und Familie“

Ich unterrichte im Studiengang „Management und Versorgung im Gesundheitswesen (MVG)“ an der ASH Berlin die Erstsemester. Das Modul heißt „Berufsbezogene Reflexion“ und ist für die Studierenden aus dem Gesundheitsbereich ein Einstieg in das Studium mit Raum und Zeit, sich kennenzulernen und den eigenen bisherigen beruflichen Werdegang zu reflektieren. Ich bin Theaterwissenschaftlerin und Mediatorin und habe nie im Gesundheitssystem gearbeitet, was für dieses Modul auch nicht wichtig ist, da ich kein Fachwissen vermittle. Im Kontext der kollegialen Fallbearbeitung beschreiben die Studierenden hier unter anderem ihre beruflichen Belastungen.

Seit vier Semestern wird von sehr vielen der Umgang mit neuen körperlichen und seelischen Belastungen durch die Corona-Pandemie genannt, mit denen die im Gesundheitsbereich Beschäftigten mehr oder minder alleine gelassen werden. Ich bin dankbar für diese Einblicke in eine für mich fremde Welt und ich möchte – selbstverständlich mit Einwilligung der Studierenden – veröffentlichen, was die Studierenden berichten, die auf Covid-Stationen arbeiten. Sie sollen hier stellvertretend für die Menschen stehen, die in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen arbeiten. Sie verdienen so viel Respekt – und erfahren dennoch mangelnde Wertschätzung in unserer Gesellschaft wie sich unter anderem an der schlechten Bezahlung zeigt.

Die jungen Menschen ringen täglich mit ihrer persönlichen physischen und psychischen Belastungsgrenze. Sie versuchen, den isolierten Covidpatient_innen in ihrer Sterbestunde mehr zu sein als Intensivpfleger_innen am Krankenbett. Sie ersetzen in dem Moment auch die abwesende Familie und manchmal auch die Seelsorger_innen und das in einem Zustand, in dem sie vielleicht schon zehn Stunden in Schutzkleidung arbeiten und weder gegessen noch getrunken haben. Während sie alle Grenz- und Wachstumserfahrungen machen, hören und sehen sie gleichzeitig Querdenker_innen protestieren. Ich kann mir nicht vorstellen, wie so viel Zynismus auszuhalten ist.

 

„Jede Welle hat Ihre eigenen Herausforderungen und es sind Herausforderungen, auf die wir nicht vorbereitet sind."

„Als Intensivpflegefachkräfte sind wir daran gewöhnt, Patient_innen sterben zu sehen, aber mit Covid ist es anders. Der Tod kommt oft schnell. Wir und die Patient_innen sind nicht darauf vorbereitet und wir sind auf einmal alleine mit dem Sterbenden im Raum. Ich kann nicht schnell mal raus gehen, um Luft zu holen oder eine Träne zu weinen oder mich mit eine_r Kolleg_in abzuwechseln. Es geht nicht. Ich bin in Schutzkleidung. Das Aus- und Anziehen dauert. Es dauert auch viel länger, bis Unterstützung kommt als normalerweise, „weil die Covidpatient_innen isoliert sind und das Anlegen der Schutzkleidung Zeit braucht“, berichten mir die Studierenden.

 

„Niemand hat überlebt und ich war der Letzte, mit denen diese Menschen das letzte Mal sprachen."

„Die folgende Situation ereignete sich in der Nacht des Jahreswechsels von 2020 zu 2021. Ich war für Silvester 2020 auf meiner Intensivstation zum Nachtdienst eingeplant und begann meinen ersten Dienst am 31. Dezember und hatte eine Vorahnung, was mich erwarten könnte. Rasch waren wir von der zweiten Pandemiewelle massiv getroffen worden und zum Ende des Jahreswechsels war die komplette Station mit Covidpatient_innen belegt.

In meinem ersten Nachtdienst übernahm ich fünf Covidpatient_innen, wobei drei von ihnen noch wach waren und „nur“ Sauerstoff über die Sauerstoffmaske verabreicht bekamen. Die zwei anderen Patient_innen waren bereits am Beatmungsgerät angeschlossen und nicht mehr bei Bewusstsein. Aufgrund der Schwere des Krankheitsverlaufs mussten sie narkotisiert werden.

Nach der Dienstübergabe vom Spätdienst führte ich meine Antrittskontrolle bei den Patient_innen durch und erstellte mir einen Arbeitsplan für die Nacht mit Aufgaben, die ich zu erledigen hatte. Die zwei Patient_innen am Beatmungsgerät waren sehr stabil und der Arbeitsaufwand hielt sich in Grenzen.

Bei den drei wachen Patient_innen allerdings war die klinische Situation sehr angespannt und ich erkannte bei der Antrittskontrolle, dass zwei von ihnen sehr kurzatmig waren. Bei der kleinsten Bewegung im Bett rangen sie bereits nach Luft und die Sauerstoffsättigung am Monitor fiel sehr schnell. Ein typisches Merkmal von Covid, das ich bereits oft bei wachen Covidpatient_innen auf der Intensivstation (ITS) gesehen hatte. Obwohl die Situation für die drei Patient_innen sehr kritisch war, waren sie gesprächig und sehr wohlwollend mir gegenüber.  Zum Teil machten sie Witze über mein Corona-Outfit. Ein rüstiger älterer Herr erzählte mir von seinem Leben und was er alles noch machen wolle. Ich setzte mich zu ihm an das Bett, weil ich glücklicherweise ein Zeitfenster hatte und begann atemunterstützende Übungen mit ihm durchzuführen. Er erzählte mir von seinem Leben und war dabei sehr lustig, doch plötzlich hielt er inne und sah mir tief in die Augen. Er sagte: „Ich wollte doch noch so viel in meinem Leben machen und jetzt ist es zu spät dafür. Ich komme hier nicht mehr raus.“

"Sie hatte bereits bläulich verfärbte Lippen und ihr war die Angst ins Gesicht geschrieben."

Ich habe mich dann mit meinem Stuhl so hingesetzt, dass er mein Gesicht nicht mehr sehen konnte, habe das Gespräch in eine andere Richtung gelenkt und die Übungen mit ihm fortgesetzt. Seine Aussage hatte mich unvorbereitet getroffen und ich hatte unverzüglich Tränen in den Augen und musste mich zusammenreißen, nicht zu weinen. Ich wollte professionell bleiben und den Patienten mit meinen Gefühlsausbrüchen nicht zusätzlich verunsichern. Als ich die Übungen mit ihm abgeschlossen hatte, ging ich zu den beiden anderen Patient_innen. Die eine Patientin schlief und ich ließ sie in der Nacht auch in Ruhe schlafen, denn ihre Sauerstoffwerte hatten sich glücklicherweise stabilisiert.

Anders sah es bei der anderen Patientin aus. Sie hatte bereits bläulich verfärbte Lippen und ihr war die Angst ins Gesicht geschrieben. Sie fühlte sich offensichtlich sehr einsam und mit der ganzen Situation überfordert. Ich führte auch mit ihr atemunterstützende Übungen durch und dabei hielt sie sich an meinen Armen fest. Die Art und Weise, wie sie dabei meine Hand hielt, werde ich mein Leben lang nicht mehr vergessen. Als ich mit der Übung fertig war, erkannte ich, dass es nach Mitternacht war. Ich schaute sie an und legte meine Hände auf ihren Unterarm und sagte: „Ich wünsche Ihnen trotz dieser Situation alles Gute für das neue Jahr.“

Wir mussten beide sichtlich schlucken und ich ging zügig zu meiner Arbeit, da mir wieder Tränen in den Augen standen. Ich arbeitete anschließend außerhalb der Zimmer und sprach mit meinen Kolleg_innen. Um circa 3 Uhr morgens gab es einen Alarm bei der Patientin, bei der ich als Letztes gewesen war. Ich ging in das Zimmer und erkannte, dass sich ihre Sauerstoffsättigung sehr verschlechtert hatte. Ich versuchte die Symptomatik zuerst ohne ärztliche Hilfe zu verbessern, doch nichts half. Ich wusste, dass es jetzt so weit war sie an das Beatmungsgerät anzuschließen. Dafür musste ich den Arzt_die Ärztin hinzuziehen und uns war bewusst, welche Konsequenz das womöglich für das Überleben der Patientin zur Folge hat. Der Arzt_die Ärztin und ich klärten sie über die veränderte Situation auf und sie willigte ein, sich intubieren zu lassen (Intubation = Anschluss eines Menschen am Beatmungsgerät mit Beatmungsschlauch). Der Arzt_die Ärztin und ich führten die Intubation zusammen durch, wobei ich assistierte und die Narkose steuerte und er_sie den Beatmungsschlauch in die Luftröhre einführte. Wir sprachen keinen Ton in dieser Situation und es war komplette Stille im Zimmer. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, außerdem war ich hungrig und hatte bisher kaum etwas getrunken. Nachdem die Intubation erfolgt war, verlief die restliche Nacht ohne größere Ereignisse und am Morgen übergab ich meine fünf Patient_innen an den Frühdienst. In der darauf folgenden Nacht hatte ich nur noch vier Patient_innen. Die Patientin, die in der vorherigen Nacht schlief, wurde glücklicherweise auf eine normale Station verlegt. Dafür waren jetzt alle meine Patient_innen intubiert und am Beatmungsgerät – auch der ältere Mann, der mir von seinem Leben erzählt hatte. Ich hatte noch drei weitere Nachtdienste und am Ende meines letzten Nachtdienstes waren alle vier Patient_innen verstorben. Niemand hat überlebt und ich war der Letzte, mit denen diese Menschen das letzte Mal sprachen, bevor sie in Narkose gelegt wurden.“

 

„Ich war ungefähr 15 Minuten in dieser Notfallsituation auf mich allein gestellt."

„Herr I. ist an einer Covid-Pneumonie mit einem schweren Verlauf erkrankt. Er ist Mitte 30 und kommt aus einem osteuropäischen Land. Die Aufnahme des Patienten in ein Isolationszimmer der Intensivstation war fünf Tage zuvor erfolgt. Er befand sich bereits zu Beginn meines Nachtdienstes um 20:30 Uhr in einem medizinisch instabilen Zustand und war seit etwa 24 Stunden auf eine nicht-invasive Beatmungsform mit sehr hohem Sauerstoffbedarf angewiesen. Aufgrund der schlechten gesundheitlichen Verfassung des Patienten, habe ich unmittelbar ein Gespräch mit dem zuständigen Internisten und der Anästhesiefachärztin veranlasst, um eine eventuelle Intubation und somit invasive Beatmung des Patienten zu diskutieren. Nach erneuter Betrachtung des Patienten und seiner aktuellen Blutgas- und Laborparameter haben sich die zuständigen Mediziner_innen allerdings vorerst gegen diese Option entschieden. Um 0:30 Uhr begann sich der Zustand von Herrn I. weiter zu verschlechtern. Er versuchte sich die Beatmungsmaske aus dem Gesicht zu entfernen und schlug um sich. Da allerdings die mehrfache Gabe von beruhigenden und schmerzlindernden Medikamenten nur unzureichend zur Beruhigung des Patienten beitrugen, suchte mein_e Kollege_in erneut das Gespräch mit den zuständigen Mediziner_innen. Diese sahen jedoch weiter von einer tiefen Sedierung und Intubation des Patienten ab. In den nächsten Stunden verschlechterte sich der Gesundheitszustand des Patienten weiter und die Sauerstoffkonzentration in der arteriellen Blutgasanalyse sank weiter bei gleichzeitigem Anstieg von Blutdruck und Herzfrequenz. Um 3:00 Uhr löste sich Herr I. mit der rechten Hand aus der Handfixierung und entfernte sich die Beatmungsmaske. Die Maske wurde dabei beschädigt, weshalb der Patient nicht weiter über das Beatmungsgerät beatmet werden konnte und in kurzer Zeit ateminsuffizient wurde. Ich ergriff umgehende Sofortmaßnahmen, indem ich meine_n Kollegin_en zur Hilfe rief und mit der manuelle Beatmung des Patienten begann. Während mein_e Kollege_in den zuständigen Internisten und die diensthabende Anästhesiefachärztin telefonisch über die Notfallsituation informierte und um Unterstützung bat, hörte das Herz des Patienten auf zu schlagen. Ich begann direkt die Reanimation des Patienten und informierte meine_n Kollegin_en darüber, die_der sich bereits die persönliche Schutzausrüstung anlegte, die zum Eigenschutz beim Betreten eines infektiösen Patient_innenzimmers nötig ist. Nach Eintreffen der Anästhesiefachärztin und des zuständigen Internisten wurde Herr I. intubiert und die Reanimationsmaßnahmen weitergeführt. Mit Blick auf das EKG des Patienten wurden ihm Medikamente als intravenöse Injektion verabreicht und er wurde mehrmals defibrilliert. Nach 90 Minuten wurden die lebenserhaltenden Notfallmaßnahmen jedoch nach Anordnung der Mediziner_innen beendet und der Patient Herr I. für tot erklärt.

„Ich empfand ich es als emotional sehr belastend, eine solche Notfallsituation mit einem jungen Patienten zu erleben."

Als belastend fand ich an dieser Situation das hohe Maß an körperlicher Anstrengung, über viele Stunden kontinuierlich in der aus einem plastikbeschichteten Schutzanzug, Schutzbrille und Atemschutzmaske bestehenden Schutzausrüstung zu arbeiten. Zusätzlich erschwerend war dabei die Sprachbarriere zwischen mir und dem Patienten, der kaum Deutsch sprach und ich nicht seine Muttersprache. Des Weiteren empfand ich es als emotional sehr belastend, eine solche Notfallsituation mit einem jungen Patienten zu erleben. Weiter erschwerend in dieser Situation war, dass es aufgrund der aufwendigen und umfangreichen Schutzausrüstung, die das Personal vor dem Betreten des Patient_innenzimmers anlegen musste, einige Minuten länger dauerte, bis Unterstützung eintraf. Somit war ich einen nicht unerheblichen Zeitraum von ungefähr 15 Minuten in dieser Notfallsituation auf mich allein gestellt. Alles in allem war diese Situation ein für alle beteiligten Personen sowohl physisch als auch psychisch sehr belastendes Erlebnis.“

Diese zwei Situationsbeschreibungen von Studierenden, beide ausgebildete Intensivpfleger_innen, stehen stellvertretend für ihre vielen Kolleg_innen, die täglich um das Leben von Covidpatient_innen ringen. Mein Fazit ist: Trotz Personalknappheit muss es für die Pflegenden, aber auch für die weiteren Berufs-/Professionsvertreter_innen in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen ein Angebot zur Reflexion der Belastungssituationen geben. Krankenstand und Kündigungen des Personals können so sicherlich verhindert werden. Auf der einen Seite ist es die Verantwortung des Arbeitgebers und auf der anderen aber auch die Verantwortung der Gesellschaft. Jede_r trägt die Verantwortung, dass die Menschen, die uns bei einer Krebserkrankung, einer Operation, einem Schlaganfall oder Herzinfarkt im Krankenhaus gut versorgen können, auch da sind. Und das sie nicht schon vorher gekündigt haben, weil sie unter den Belastungen durch Corona-Patient_innen zusammengebrochen sind. Es liegt in unserer Verantwortung, sich impfen zu lassen, Masken zu tragen und das Virus ernst zu nehmen.

Ich danke allen Studierenden für die Einblicke, die sie mir gewährten. Ich danke ihnen und allen anderen Pflegefachkräften und Intensivmediziner_innen für ihre Arbeit an der Grenze der eigenen physischen und psychischen Belastbarkeit.