Changeover Drohender Kita-Kollaps

Prof. Dr. Rahel Dreyer über den dringlichen Appell von Wissenschafler_innen an die Politik und was jetzt getan werden muss

Porträt von Rahel Dreyer mit bunter Bluse und braunen Haaren
Michael Schaaf
Sie haben zusammen mit anderen Wissenschaftler_innen einen Appell zur aktuellen Situation in den Kitas verfasst. Was läuft dort schief?

Schon vor der Corona-Pandemie reichten die Ressourcen zur Bewältigung der vielfältigen und gestiegenen Anforderungen im Kita-System oftmals nicht aus. Die Situation hat sich seit der Pandemie noch mal deutlich verschlechtert hat. Viele Fachkräfte gehen seit der Pandemie stetig über ihre Grenzen und müssen die neuen Herausforderungen oftmals unter herabgesetzten Standards und unter chronischem Personalmangel umsetzen. Fehlendes Personal, große Kindergruppen und die Unterfinanzierung des gesamten Systems erschweren die professionelle Begleitung aller Kinder und haben negative Auswirkungen auf das kindliche Wohlbefinden und somit deren Entwicklung. Somit ist weiterhin von einer Abwärtsspirale in der pädagogischen Qualität auszugehen bis hin zu einem Kollaps des gesamten Systems.

In dem Appell fordern Wissenschaftler_innen, deutlich verbesserte finanzielle und fachliche Anstrengungen zu unternehmen, um die Ressourcen des Systems zu stärken. Wie kam es zu der Initiative?

Mit großer Sorge haben wir Wissenschaftler_innen die Entwicklung des Systems der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung in den letzten beiden Jahren beobachtet. Angesichts gestiegener Anforderungen und nicht gleichzeitig gewachsener Ressourcen befürchten wir einen Zusammenbruch des Systems und ein massiver Verlust der aufgebauten Qualität.
Daher haben wir auf Initiative von Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff gemeinsam einen eindringlicher Appell verfasst, der aktuell an die zuständigen Bundes- und Landesministerien sowie den Deutschen Städtetag, den Deutschen Landkreistag und den Deutschen Städte- und Gemeindebund verschickt wird. Der Appell wurde von nahezu allen bedeutenden, insgesamt 109 Professorinnen und Professoren im Bereich der frühkindlichen Bildung/ Kindheitspädagogik/ Bildung und Erziehung in der Kindheit unterzeichnet. Damit haben sich dem Appell auch nahezu alle Leitungen der einschlägigen akademischen Ausbildungsgänge angeschlossen.
 

„Es fehlt eine Lobby für die Kinder, die Vulnerabelsten in unserer Gesellschaft, und für die Fachkräfte, die beide – nicht erst seit der Pandemie – Schlusslicht in der gesellschaftlichen Diskussion sind.“ 


Was können Hochschulen konkret zur Problemlösung beitragen?

Hochschulen qualifizieren akademisch ausgebildete Fachkräfte wie z.B. staatlich anerkannte Kindheitspädagog_innen, die nicht nur im Kontext des Personalmangels dringend benötigte Fachkräfte sind, sondern die auch Qualitätsentwicklungsprozesse in Kitas und anderen Bildungseinrichtungen voranbringen. Außerdem erarbeiten Hochschulen im Rahmen von Forschungsprojekten – wie z.B. durch meine StimtS-Studie – wichtige Erkenntnisse zu den Auswirkungen struktureller und prozessualer Rahmenbedingungen auf das Erleben der Kinder und Fachkräfte. Darüber hinaus entwickeln sie u.a. in Transferprojekten ressourcenorientiert und dialogisch mit den Teams und Trägern kurz-, mittel- und langfristige Strategien zum Umgang mit der dramatischen Situation. Darüber bieten Angehörige von Hochschulen Politikberatung an und arbeiten in beruflichen und fachlichen Netzwerken wie z.B. in der BAG BEK e.V. mit, die sich diesem Thema annehmen.

Was berichten Studierende der ASH Berlin, die in der Praxis arbeiten?

Studierende, insbesondere aus unserem berufsintegrierenden Bachelor Erziehung und Bildung in der Kindheit, beschreiben immer wieder sehr deutlich, wie belastetet gerade das gesamte System ist. Akuter Personalmangel, eine hohe Arbeitsbelastung und gestiegene Anforderungen erschweren den pädagogischen Alltag erheblich und führen zu einer zunehmenden Verschlechterung in der pädagogischen Qualität. Dabei sind die Förderbedarfe – insbesondere in der sprachlichen und sozio-emotionalen Entwicklung – während der Pandemie deutlich gestiegen. Ich bin sehr besorgt über diese alarmierenden Situation. Es fehlt eine Lobby für die Kinder, die Vulnerabelsten in unserer Gesellschaft, und für die Fachkräfte, die beide – nicht erst seit der Pandemie – Schlusslicht in der gesellschaftlichen Diskussion sind. Das Wohl zu vieler Kinder erscheint mir derzeit gefährdet.

Was muss die Politik jetzt sofort tun, um den drohenden Zusammenbruch des Systems zu verhindern?

Das System der Kindertageseinrichtungen braucht dringend kurzfristige Unterstützung sowie mittel- und langfristige verlässliche Strategien. Kurzfristige Maßnahmen zur Unterstützung sind z.B. – gerade jetzt auch, wo sich noch Veränderungsbedarfe für eine verantwortungsvolle Aufnahme geflüchteter Kinder ergeben – Mittel für Supervision und zusätzliches professionelles Personal wie z.B. Honorarkräfte, Therapeut_innen und Sprachvermittler_innen. Mittel- und langfristige Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen sind z.B. eine Verbesserung des Personalschlüssel in den Kitas. Außerdem ist noch verstärkter in die Fachkräftegewinnung und -sicherung zu investieren, um dem eklatanten Personalmangel entgegenzuwirken. Parallel sollte ein Ausbau kindheitspädagogischer Studiengänge erfolgen, anstatt nur in neue Assistenzmodelle zu investieren, die zu neuen Sackgassenberufen führen. Um den drohenden Kollaps des Systems abzuwenden, sind jetzt erhebliche Investitionen und mittelfristig eine kontinuierliche Erhöhung der Ressourcen für das Kitasystem erforderlich. Die politisch Verantwortlichen auf Bundes- und Landesebene sowie in den Kommunen sind jetzt dringend gefordert zu handeln. Die Folgen für Kinder, Fachkräfte, Eltern sowie die gesamte Gesellschaft und Wirtschaft sind jetzt schon durch eine Zunahme psychischer Auffälligkeiten sowie einer wachsenden Bildungslücke insbesondere sozioökonomisch benachteiligter Kinder fast irreparabel. 


Rahel Dreyer ist Professorin für Pädagogik u. Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre sowie Studiengangsleiterin im Studiengang Erziehung und Bildung in der Kindheit (B.A.).
Kontakt:
T +49 30 99245-418
dreyer@ ash-berlin.eu