Kommentar Zur Zukunft der Gesundheitsfachberufe

Das Bundesministerium legt Eckpunkte eines Gesamtkonzeptes vor. Ein Kommentar zur Perspektive der Hochschulqualifikation in der Physio- und Ergotherapie

Hintergrund

Am 5.3.2020 – unmittelbar vor dem Lockdown durch die Coronapandemie – legte das Bundesministerium ein 13-seitiges Eckpunktepapier zur Zukunft der Gesundheitsfachberufe vor. Hintergrund dafür ist der Koalitionsvertrag der Bundesregierung und die Anregung der Gesundheitsministerkonferenz 2017. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe trug Expertisen von Verbänden und Institutionen zusammen, um eine bedarfsgerechte Ausbildung und eine Neustrukturierung von Aufgaben- und Kompetenzprofilen vorzuschlagen. Zehn Gesundheitsfachberufe, z.B. die Ergo- und Physiotherapie (PT und ET) werden hier thematisiert.

Warum soll etwas verändert werden?

Die Berufe müssen auf die Veränderung im System der Gesundheitsversorgung vorbereitet sein. Es geht um die Gewährleistung einer künftigen Patientenversorgung. Patientenbedürfnisse haben sich verändert und ebenso das Gesundheitssystem. Beispiele dafür: Es gibt heute und in Zukunft mehr Menschen mit chronischen Gesundheitsproblemen, die adäquat begleitet werden müssen. Es geht also um die Qualitätssicherung der sogenannten Heilmittel (z.B. Physio- und Ergotherapie), um die wissenschaftliche Überprüfung von bewährten Verfahren aber auch um die Entwicklung neuer Therapiekonzepte (z.B. Integration von Technik). Präventive Angebote müssen vor dem Hintergrund des demografischen Wandels verstärkt werden, Professionelle sollten mit Betroffene bzw. ihren Angehörigen professionell kommunizieren und kooperieren. Therapeut_innen könnten – wie international erprobt – neue Aufgaben in der Gesundheitsversorgung übernehmen. In einer älter werdenden Gesellschaft, in der sowohl Prävention, Rehabilitation und die Unterstützung am Lebensende (Palliation) wichtiger wird,  kommt den therapeutischen Berufen – den Gesundheitsfachberufen – eine besondere Bedeutung zu.

Zentraler Punkt im Papier ist die Ausbildung und damit die Novellierung der Berufsgesetze, die veraltet sind und den rasanten Entwicklungen im Gesundheitssystem der letzten Jahrzehnte nicht mehr nachkommen. Eine gesetzliche Änderung ist geboten und wird durch das Eckpunktepapier „Gesamtkonzept Gesundheitsfachberufe“ vorbereitet.

Themenschwerpunkte darin sind:

1.     Schulgeldabschaffung

2.     Ausbildungsvergütung

3.     Revision der Berufsgesetze

4.     Durchlässigkeit von Ausbildung

5.     Akademisierung und Direktzugang

6.     Neue zu regelnde Berufe.

Mit großer Spannung schauen die Pionier_innen der hochschulischen Qualifikation in Deutschland (auch die ASH Berlin ist seit 2004 dabei) auf die Aussagen zur Akademisierung. Zentral ist die Frage: Voll- oder Teilakademisierung? Für die Hebammen steht fest, dass der Weg in den Beruf über ein Studium erfolgen wird. Für die Logopädie wird eine Vollakademisierung  zu prüfen und für die Physio- und Ergotherapie könnte eine Teilakademisierung in Frage kommen. (BMG 2020; S.7).

„Für jeden Beruf soll gesondert geprüft werden, ob Teil- oder Vollakademisierung angezeigt ist. Für die Logopädie wird eine Vollakademisierung als möglich angesehen, für die Ergotherapie und Physiotherapie soll eine Teilakademisierung geprüft werden. Prüfkriterien sollen sein:

  • Teilbarkeit der Tätigkeitsspektren in den Berufen (verschiedene Niveaus)
  • Größe der Auszubildendengruppe
  • Grad der schon bestehenden Akademisierung
  • Anteil der Auszubildenden mit Fach- bzw. Hochschulzugangsberechtigung.“ (BMG 2020)

Persönlicher Kommentar zum Eckpunktepapier

Die ASH Berlin hat sich von Beginn an für eine hochschulische Qualifikation der Gesundheitsfachberufe eingesetzt. Der Kompass für die zeitgemäße Anpassung der Berufe wird jetzt gestellt. Es braucht nun deutliche Zeichen in welche Richtung es gehen soll.

Zentral sind die Frage der Finanzierung und die Verantwortung für die Ausbildungen für „systemrelevante“ Gesundheitsarbeit. Vergleicht man das politische Engagement und die öffentliche Anerkennung für die Pflege und Medizin, dann sind die Therapeut_innen i.d.R. – obwohl ebenfalls in Corona-Zeiten weiter im Einsatz für die Bevölkerung – „nicht oder marginal auf dem Schirm“. Ihre Arbeit an der Förderung von sozialen Teilhabemöglichkeiten durch die Unterstützung von Bewegung und Mobilität, der Betätigung (als Kerndomäne der Ergotherapie) oder die Kommunikationsförderung (als Kerndomäne der Logopädie) ist zukunftsorientiert: Rehabilitation vor Pflege, ambulant vor stationär, Hilfe zur Selbsthilfe, „die Zukunft ist chronisch“ etc. sind nur einige (sozialpolitische) Überschriften, die immanent qualifizierte Therapieberufe ansprechen.

Therapeut_innen haben viel Zeit und persönliches Geld in ihre Aus- und Weiterbildung gesteckt und dafür wenig bekommen (siehe „Therapeuten am Limit“). Jetzt zeigt sich, ob eine öffentliche Anerkennung zu erwarten ist und jene, die versuchen durch Bildung „Schritt zu halten“ auch durch gesetzliche Absicherung – z.B. einem klaren Ja zur Akademisierung – unterstützt werden. Die Signalwirkung nächster Schritte ist nicht zu unterschätzen: Es braucht jetzt ein gutes Image und Reklame für diese wichtige Arbeit von Therapeut_innen, denn junge Menschen mit anderen Bildungschancen beobachten die zähe Entwicklung im Bereich hochschulischer Qualifikation und loten Chancen auf (monetäre) Anerkennung aus.  

Entscheidende und zu klärende Punkte für die künftige Ausbildung sind die Übernahme von Verantwortung für die Bevölkerungsgesundheit durch den Beitrag z.B. von Phyiso- und Ergotherapeut_innen, die Finanzierung dieser Ausbildungen sowie die zeitgemäße Aufstellung durch adäquate Ausbildungsinhalte und verlässliche Qualitätsstandards. Im Ausland finden sich hier gute Beispiele für die Modernisierung dieser Berufe und die Förderung wissenschaftlicher Disziplinen mit Beiträgen für Forschung und Entwicklung.

Wie geht es weiter? Die Finanzierung von Ausbildungen an staatlichen Ausbildungsstätten erfolgt in Deutschland verfassungsmäßig durch die Bundesländer. Als weitere Finanzierungsträger sind der Bund und die Sozialversicherungsträger (z.B. Gesetzliche Krankenkassen) genannt. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) will eine Arbeitsgruppe „Wissenschaft und Gesundheit“ einsetzen, die die künftige Finanzierung beraten wird.

Forderungen

Aus der Perspektive einer Professorin für Physiotherapie der ersten Stunde möchte ich 5 Forderungen zusammentragen:

Forderung 1: Jetzt braucht es den Einstieg in einen konsequenten Strukturaufbau an Hochschulen – wie es internationaler Standard für die Ausbildung von Physio- und Ergotherapeut_innen ist.

Forderung 2: Es braucht für alle Gesundheitsberufe klare Zeichen wohin die Reise geht und wieweit die Reise soziale Anerkennung verspricht. Es braucht eine Arbeit am Image der Berufe. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt für Werbung für systemrelevante Gesundheitsarbeit.

Forderung 3: Unter Berücksichtigung der Erkenntnisse in der Umsetzung der Modelle Primärqualifizierender Studiengänge bis 2021 muss jetzt ihre Überleitung in die Regelfinanzierung durch die Hochschulen erfolgen und den Studiengängen (und allen die dort beteiligt sind) Planungssicherung geben.

Forderung 4: Die Praxisphasen müssen qualitativ – wie in anderen Berufen – begleitet sein: d.h. klare Vorgaben und Anerkennung von praktischen Ausbildungsstätten, Qualitätsstandards für praktische Studienphasen einschließlich – vorgegebener – Weiterbildung und Honorierung von Praxisanleiter_innen etc.

Forderung 5: Es braucht angemessene Entlohnung über therapeutische Leistungen und Rahmenbedingungen für die Aufgaben von studierten Physio- und Ergotherapeut_innen – damit ihre Kompetenz auch zur Entfaltung kommen kann, quasi in die Performanz im System gesundheitlicher Versorgung.

Fazit: Der deutsche Sonderweg ist bezogen auf das Potential der Gesundheitsfachberufe für das Gesundheitssystem und die internationale Anschlussfähigkeit der Disziplinen bedenklich aber offenbar aktuell nicht zu verhindern.

Eine Teilakademisierung meint, dass es nicht zu einem Systemwechsel in der Ausbildung kommt –sondern ein Studium für einen spezifischen Anteil der Berufsangehörigen vorgesehen ist. Laut Wissenschaftsrat wurde 2012 die Empfehlung von 10-20 % ausgesprochen (2020 liegt sie bei PT und ET z.T. weit unter bzw. bei ca.  5 %). Doch die Spaltung in „akademisierte/nicht akademisierte“ splittet die Berufe und schwächt ihre politische Durchsetzungskraft. Zudem verwässert das Aufschieben auf die lange Bank die Attraktivität von Studienplätzen. Die Fragen für potentielle Studierende liegen auf der Hand: Sind die Entscheider und Verantwortlichen für die zeitgemäße Ausbildung entschlossen und wenn nicht, was ist der „vermeintlich richtige Weg“ in Deutschland Therapeut_in zu werden? Werden studierte Therapeut_innen gebraucht? Auf diese Fragen haben die Evaluationsberichte der primärqualifizierenden Studiengänge vorzeigbare, ermutigende und gute Antworten gegeben, z.B. VAMOS Studie (Nordrhein-Westphalen) oder auch die ASH Berlin in ihren Evaluationen. Ein modernes Berufsgesetz mit der Möglichkeit hochschulischer Primärqualifikation könnte zu einer Steigerung der Attraktivität der Berufe beitragen. Voraussetzung dafür ist, dass die neuen Kompetenzen auch im Gesundheitssystem von Bedeutung sind und ihre Wirkkraft erzielen können. 

Inzwischen haben wir an der ASH Berlin viele Erfahrungen mit den Studierenden, die nach dem Studium in den Beruf gehen. 2021 feiert der Studienzweig (primärqualifizierend) sein 10-jähriges Bestehen; der duale jetzt additive Studienzweig existiert bereits seit 2004. Bedeutsam ist, dass die  Studierenden durch gute Leistungen auffallen – in ihren Staatsexamina den Verantwortlichen aus dem LaGeSo, in den Praxisstätten und nicht zuletzt den Arbeitgeber_innen. Doch die Entwicklung der Anerkennung hochschulischer Qualifikation zieht sich in Deutschland hin und schwächt – desto länger es dauert – das gute Image des Hochschulstudiums.

Ein Tagungsmotto an der ASH Berlin trug den Titel: „SIE - (ja genau diese Absolvent_innen) haben uns noch gefehlt“. Möge die Gesetzgebung dieses bitte bei den anstehenden Weichenstellungen für diese Berufe und die Patient_innen berücksichtigen. Auf politischen Ebenen geht es jetzt darum strukturelle Übergänge zu gestalten, z.B. durch einen Strukturaufbau an Hochschulen und der angemessenen Ausrichtung von Ausbildung im 21. Jahrhundert. Die neuen Therapeut_innen haben einen Anspruch darauf, gut vorbereitet zu sein auf die Herausforderungen in der Praxis – zum Wohle der Patient_innen.

In einem „Bündnis Therapieberufe an die Hochschulen“ haben sich die Verbände und Vertreter_innen der Gesundheitsfachberufe zusammengeschlossen. Sie repräsentieren in einem Zusammenschluss aus Berufsfachschulen und Hochschulen über 130.000 Ausübende und Auszubildene der Gesundheitsberufe Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie. Ziel ist es, die Patientenversorgung in Deutschland zu gewährleisten.

Prof. Dr. Heidi Höppner ist Professorin für Physiotherapie mit dem Schwerpunkt Förderung von Gesundheit und Teilhabe.