Serie: Chronische Schmerzen Schmerz ist Energie am falschen Ort

Ein Interview mit einer Erfahrungsexpertin zu Perspektiven, Erfahrungen, Strategien und Möglichkeiten, mit Schmerzen im Alltag umzugehen

Ein Stuhl mit einem Schild wo drauf steht: Was berührt dich?
Jörg Farys, Die Projektoren

Schmerz ist eine subjektive Wahrnehmung und für jeden Individuell erfahrbar, weshalb es unterschiedliche Definitionen gibt. Frau X. beschreibt den Schmerz als „Energie am falschen Ort. Das zeigt, dass durch Schmerzen Energie für normale Aktivitäten […] fehlen“. Das wurde Frau X., Erfahrungsexpertin und Leiterin einer Selbsthilfegruppe die an chronischen Schmerzen leidet, bei einer multimodalen Schmerztherapie im Krankenhaus Havelhöhe vermittelt und ist für sie persönlich sehr greifbar.
Ihre persönlichen Perspektiven, Erfahrungen, Strategien und Möglichkeiten mit den Schmerzen im Alltag umzugehen, werden in diesem Artikel thematisiert.  Im Rahmen des Moduls „Bewältigung chronischer Schmerzen“ haben wir, Studierende des primärqualifizierenden Studiengangs Ergotherapie/Physiotherapie an der Alice-Salomon-Hochschule, ein Interview mit Frau X. geführt.

Patient_innenzentrierung im Mittelpunkt: Aktivität, persönliches Erleben und Verhalten
Vor 30 Jahren erlitt Frau X. einen Bandscheibenvorfall und ist seither als chronische Schmerzpatientin eingestuft. Es folgten noch drei weitere Bandscheibenvorfälle und eine lange Serie an Behandlungen. Frau X. erhielt Einblick in unterschiedliche Behandlungskonzepte und  Eindrücke der Veränderung der Therapieansätze hinsichtlich der chronischen Schmerzen aufgrund von Bandscheibenvorfällen. „Damals war angesagt: Spritzen, Tabletten, Ruhe, Wärme und das hat sich ja Gott sei Dank völlig verändert.“  Heutzutage werden Aktivität und das persönliche Erleben und Verhalten immer mehr in den Mittelpunkt gestellt und das für jeden Patienten und jede Patientin individuell. Hier spricht man von einer Patientenzentrierung. Unsere Erfahrungsexpertin nennt drei Schlüsselaspekte, die ihr selbst sehr wichtig sind: „Mein heutiges Fazit ist: möglichst Operationen vermeiden, einen guten Schmerzarzt aussuchen, der einen gut einstellt auf eine medikamentöse Therapie, wodurch dann wiederum Bewegung ermöglicht wird.“

„Gezielte Physiotherapie als Unterstützung.“
Für uns Therapeut_innen ist es wichtig zu wissen, wie wir mit chronischen Schmerzpatienten_innen umgehen sollen und welche Wünsche und Erwartungen aus Sicht der Patient_innen eine wichtige Rolle spielen. Deshalb ist es von großer Bedeutung, diese individuellen Wünsche der Betroffenen in der Kommunikation zu erfahren, um sie aktiv in die Therapie einzubeziehen. Wie allerdings können wir das erreichen?

„Selbstwirksamkeit und Autonomie fördern: In kleinen Schritten vorgehen, so dass man eben Erfolgserlebnisse hat.“
„Also was man als Patient eben als sehr schön empfindet, wenn in kleinen Schritten vorgegangen wird, dass man eben Erfolgserlebnisse hat.“ Frau X. hat vieles ausprobiert und festgestellt: „alles was gut ist, muss man selbst bezahlen“. Ihr selbst gefällt besonders das freie Tanzen, da sie „während des Tanzens, gar keine Schmerzen“ habe. „Die Bewegungsmöglichkeit oder zurückzukommen in eine normale Bewegung schenkt einem sehr viel Spielraum, sehr viel Freiheit, sehr viel Unabhängigkeit.“ Hier wird deutlich, dass man sich als Therapeut_in auf alle Patient_innen gut einstellen muss und stets reflektieren sollte, inwiefern die Maßnahmen auf die Patient_innen wirken. „[…] Wenn das funktioniert, dann hat der Patient eben auch die entsprechende Rückmeldung, selber weiterzumachen.“ Hier sprechen wir Therapeut_innen von Selbstwirksamkeit, was für den Therapieerfolg immer entscheidender wird. Es ist wichtig, dass die Patient_innen merken, was möglich ist und wie sie sich selbst helfen können. „Es kann schon passieren, dass ich in einem schönen Konzert einfach während der Pause dann zur Garderobe und nach Hause gehe, weil ich einfach nicht länger sitzen kann. Das gibt mir trotzdem sehr viel Selbstbewusstsein, das erstmal geschafft zu haben, mir so einen Kulturgenuss zu gönnen. Es ist halt was anderes, als wenn man das zuhause am CD-Player konsumiert. […] Ich bin immer wieder ein Stück weitergekommen.“  Für sie selbst nimmt die Selbstwirksamkeit und Autonomie einen sehr hohen Stellenwert ein. Sie nimmt an Studien teil, um Schmerzfragebögen zu optimieren und den Praxisbezug zu gewährleisten, um ein besseres Outcome der Therapien zu gewährleisten. Allerdings spielen nicht nur die Maßnahmen und die Selbstwirksamkeit eine große Rolle wie Frau X. betont: „[…] das wichtigste ist und das höre ich auch immer wieder von meinen Leuten (Selbsthilfegruppe), dass man sich erstmal angenommen fühlen muss mit diesen Defiziten […].“  Dieses Gefühl werde ihr auch in einer Selbsthilfegruppe gegeben.

Selbsthilfe: „Ich habe mich von den anderen mit meinen Defiziten in einer wohlwollenden Atmosphäre angenommen gefühlt“

Den ersten Kontakt mit einer Selbsthilfegruppe hatte sie damals durch eine Freundin, die sie begleitete. Sie stellte schon da fest, dass es entlastend ist und hatte einen „positiven Eindruck“ gewonnen. Erst während ihres Aufenthalts in Havelhöhe, der Schmerzklinik, war sie selbst aktive Teilnehmerin und leitet inzwischen auch hin und wieder ihre eigene Gruppe. Sie habe bis dahin schon viel Erfahrung mit Ärzt_innen und Therapeut_innen gehabt und könne diese auch gut weitergeben. Für sie sei besonders „[…], dass man eben nicht das Gefühl hat, dass die anderen denken, dass man jammert. […] Diese Gruppenzugehörigkeit tut einfach gut.“ Es herrsche eine wohlwollende Atmosphäre, die aber auch nicht jedem immer gefalle. Herausfordernd sei es als Gruppenleiterin erstmal die psychischen Probleme der Teilnehmer_innen zu lösen „[…], weil sie nicht einsehen können, wie groß der psychische Einfluss auf die Schmerzen ist. Also der Standardspruch ist: ‚Damit brauchen Sie mir gar nicht erst zu kommen, Ich habe doch keinen an der Klatsche! ‘“. Frau X. unterstreicht, dass es kein „entweder oder“ ist, sondern ein „sowohl als auch“. Sie meint damit, dass es wichtig ist, sich zu einer Gruppe dazugehörig zu fühlen und trotzdem Medikamente und Therapien in Anspruch zu nehmen. „Es ist ein Puzzle, was sich nachher zusammenfügt, aus mehreren Teilen und dadurch zum Erfolg führt.“ 

Chronische Schmerzen: psychosozialer Rückzug
Die Auswirkungen chronischer Schmerzen auf Betroffene können unterschiedlich sein, gehen in der Regel aber mit großen Einschränkungen und sozialem Rückzug einher. Frau X. spricht dabei von einem „psychosozialen Kreislauf“, bei dem man sich zurückzieht „gesellschaftlich oder kommunikationsmäßig von Freunden, von Angehörigen, weil man den Eindruck hat, man wird von niemandem verstanden“. Der berühmt-berüchtigte Teufelskreis kommt hier ins Spiel, „weil, man dann versucht mehr Tabletten zu nehmen, um wieder in den normalen Alltag integriert zu sein. Der Mensch hat einfach dieses Bedürfnis nach Kommunikation“.  Sie selbst habe mehrere Freundschaften durch die chronischen Schmerzen verloren, weil sie Verabredungen immer wieder absagen musste. Durch Fortbildungen lernte sie, wie wichtig ein Perspektivwechsel ist und dass es sekundär ist, was andere sagen, egal wie groß der Schritt in eine Richtung ist.

„Chronischer Schmerz ist Kampf – man muss sich alles erobern!“
Chronischer Schmerz ist ein Kampf um Beziehungen und Teilhabe, ein Kampf mit Ärzt_innen und Therapeuten_innen und ein Kampf mit sich selbst. Den „inneren Schweinehund“ zu überwinden und „einfach erstmal loslaufen in Richtung Ziel, auch wenn man vielleicht noch gar nicht ankommt. […]. Eins können Sie dick unterstreichen. Schmerzpatienten müssen Kämpfen! Man muss sich alles erobern.“

Fazit:
Hier wurde eine Perspektive gezeigt, wie das Leben durch chronische Schmerzen verändert wird. Frau X. hat uns einen Einblick in das Leben einer, von chronischen Schmerzen geprägten Frau gegeben – was ihr hilft und was ihr wichtig ist. Der Artikel ist ein kleiner Beitrag, um mehr Verständnis für eine oft unverstandene Patientengruppe zu schaffen. Darum ein Plädoyer: Nehmt euch Zeit, wechselt auch mal die Perspektive und geht los, egal wie schnell und wohin.

Weitere Informationen:
Der Artikel ist Teil einer Serie aus dem Modul „Bewältigung chronischer Schmerzen“ im primärqualifizierenden Studiengang „Physiotherapie/Ergotherapie“.