Serie: Chronische Schmerzen Perspektiven im Umgang mit chronischen Schmerzen

Welche Rolle haben Therapeut_innen in der Arbeit mit chronisch erkrankten SchmerzpatientInnen?

Ein Mann in Sportkleidung stemmt Gewichte
Krafttraining zeigt den Patient_innen, dass sie auch ein schweres Gewicht heben können ohne das Schmerzen entstehen Nils Reiter

Im Rahmen des Moduls „Bewältigung chronischer Schmerzen“ führten wir Studierende des primärqualifizierenden Studienganges Ergo- und Physiotherapie zwei Interviews mit Physiothrapeut_innen des berufsbegleitenden Studiengangs durch. Im Zuge der Artikelserie möchten wir einen Einblick in den therapeutischen Behandlung bei chronischen Schmerzen geben.

Selbstwirksamkeit in der Bewältigung von chronischen Schmerzen

Herr B. ist Physiotherapeut und arbeitet im muskuloskelettalen Bereich. Täglich hat er mit Menschen zu tun, die Schmerzen und Einschränkungen in ihrer Bewegung haben. Darunter häufig auch Menschen, die an chronischen Schmerzen leiden. Dabei meint Herr B., man spricht von Schmerzen, die seit drei Monaten oder länger bestehen.  Halten Schmerzen länger an und es kommt zum Prozess der Chronifizierung, kann das umfangreiche Auswirkungen auf die Partizipation der betroffenen Menschen haben. Das kann dazu führen, dass Hobbys nicht mehr ausgeführt werden können, weil relevante Bewegungen schmerzhaft sind. Je länger die Schmerzen bestehen, desto tiefergehend sind die Auswirkungen auf die Lebensqualität. Sozialer Rückzug und Depressivität können unter anderem die Folge sein, wenn der Schmerz zum lebensfüllenden Gegenstand wird (Müller-Mundt, 2005, S.111ff). Umso wichtiger sei es laut Herrn B., die Selbstwirksamkeit der Patient_innen zu steigern. Er nennt es Kontrollüberzeugung, der Glaube daran, wie sehr man selbst die Kontrolle über seinen eigenen Körper hat und mit seinem Handeln seine Gesundheit beeinflussen kann. Verschiedenen Modelle versuchen das Entstehen von Gesundheitsverhalten zu beschreiben, unter anderem z.B. das Prozessmodell gesundheitlichen Handelns (HAPA: Health Action Process Approach). In diesem Modell spielt die Selbstwirksamkeit eine entscheidende Rolle, da an diesem Punkt entschieden wird, ob ein Verhalten oder eine Verhaltensänderung umgesetzt werden kann oder nicht. Ist man von seinen Fähigkeiten überzeugt und hat Selbstvertrauen Hindernisse zu bewältigen, wird man eher ein positives Verhalten umsetzen, wie wenn man glaubt, dass alles Schicksalsgegeben ist und man sowieso keinen Einfluss auf das körperliche Befinden hat. Bei der Bewältigung von chronischen Schmerzen ist es demnach sehr wichtig die Selbstwirksamkeit zu steigern. Auf die Frage wie dies in der Physiotherapie geschehen kann, antwortet Herr B. mit mehreren Vorschlägen.

Kleine Schritte und viele kleine Erfolgserlebnisse als Ziel

Zunächst ist eine gute Patient_innen-Therapeut_innen-Beziehung, die auf Vertrauen aufbaut, notwendig, um erfolgreich mit den Patient_innen zu arbeiten. Wenn es kein Vertrauen in der Beziehung gibt, gibt es keine Basis, auf der Hinweise und Anweisungen erfolgreich angenommen werden. Konkret kann die Selbstwirksamkeit zum Beispiel mit kleinen Erfolgserlebnissen gesteigert werden. Oft wären Ziele, die man sich als Therapeut setze, zu hochgesteckt. Laut Herrn B. haben besonders chronische Schmerzpatient_innen die Schwierigkeit, Bewegung als Routine in ihren Alltag einzubauen. Deshalb werden in der Therapie besprochene Übungen zu Hause oftmals nicht umgesetzt.

„Das ist zu viel, was ich ihm da auflege und ich spreche eigentlich mit dem Patienten ganz bewusst darüber und sage: Was ist die kleinste Routine z.B. in Bewegung, die sie sich zu trauen und wirklich sagen, boha das ist wirklich so leicht, das schaffe ich auf jeden Fall.“


Kleine Schritte und Steigerungen seien viel nachhaltiger und effektiver für den Therapieverlauf. Auch wenn es manchmal länger dauert. Auf die Frage, wie die Patient_innen über eine so langfristige Behandlung ihre Motivation behalten können, gibt er den Hinweis Therapieergebnisse zu objektivieren. Das trage dazu bei, den emotionalen Therapieprozess zu entkoppeln und mit Abstand auf Erfolge zu blicken, die oft so klein sind, dass man sie im Alltag nicht wahrnimmt. Er hätte gute Erfahrungen mit dem Führen eines Tagebuchs gemacht, in dem Werte zur Schmerzintensität aber auch der Intensität der Übungen, zum Beispiel wie viele Übungen der Patient noch in Reserve hat, notiert werden.

Weiter meint er, auch wenn es nicht ausschließlich auf chronische Schmerzpatient_innen zutrifft, sondern auf die ganze Physiotherapie zutreffen sollte, so ist eine ausführliche Therapieplanung mit gut formulierten Zielen ein großer Anreiz für Patient_innen dieser Krankheitsform, die Therapie zu erfolgreich zu bewältigen. Besonders wenn die Ziele als „emotionale Ziele“ formuliert werden. Herr B. meint damit Ziele, die direkt in der Formulierung den Alltag miteinbeziehen.

In der Behandlung von chronischen Schmerzpatient_innen kommen verschiedenen Konzepte und Interventionen zum Einsatz. Ein relevantes ist das Konzept der Graded Activity. Stufenweise Aktivität und Bewegung zu steigern ist Kern des Konzeptes. Wie Herr B. im Interview beschreibt, sind viele kleine Erfolgserlebnisse wichtig, um die Selbstwirksamkeit der Patient_innen zu fördern.

Edukation: Was passiert im Körper? Wie kann Angst überwunden werden?

Ein großer Teil der Therapie bei chronischen Schmerzen nimmt die Edukation über das Krankheitsbild ein. „[…] ein Verständnis dafür aufbauen, was da passiert im Körper, wenn ich das rausfinden kann. Und auch ein Verständnis dafür aufbauen, welche Prozesse hinter einem chronischen Schmerz stehen.“ Die Erklärung und das Bereitstellen von Informationen über den Chronifizierungsprozess und anderen Informationen, geben Patient_innen Sicherheit und Vertrauen in die Therapie. Ein weiterer Faktor, der die Selbstwirksamkeit stärkt. Herr B. beschreibt den Einfluss des sozialen Umfeldes auf gesundheitsrelevante Informationen. Je nachdem woher Patient_innen betreffende Informationen beziehen, bestehe die Möglichkeit, dass „irgendwelche Ängste aufrechterhalten werden oder Vermeidungsverhalten geprägt wird“. Gemeint ist die Angst und das Vermeiden von schmerzhaften Bewegungen, die den Chronifizierungsprozess fördern würden. Damit die Folgen der Chronifizierung so klein wie möglich bleiben, ist es nötig wieder aktive Bewegungen auszuführen. Es gehe bei der Therapie darum, dass Patient_innen sich selbst als belastbar und leistungsfähig wahrnehmen. Edukation auf einem anderen Level. Krafttraining sei hier das Stichwort.


„Nicht nur um den Körper resilienter zu machen, sondern auch um den Patienten erfahren zu lassen, gerade so bei unspezifischen chronischen Beschwerden, wo ich weiß, dass es keine strukturelle Verletzung gibt, da erfahre ich Krafttraining als eine sehr gute Intervention, um den Patienten zu zeigen, dass er belastbar ist, dass er seine Belastbarkeit steigern kann, dass er auch ein schweres Gewicht heben kann ohne das Schmerz entsteht.“


Psycho-sozialer Ansatz mit Höhen und Tiefen in der Therapie

Hat man diese Punkte im Hinterkopf und nimmt sich den therapeutischen Prozess vor Augen, ist es wichtig bei der Anamnese zu versuchen alle Facetten des biopsychosozialen Modells abzufragen. Erfragt werden sollen alle relevanten Faktoren, die das Schmerzerleben beeinflussen. Dazu gehören zum einen psychosoziale Hintergründe, wie zum Beispiel die Einstellung zur Krankheit, zum anderen aber auch Lifestyle- Faktoren, Stressexposition, Medikamente und weitere Faktoren. Im Vergleich zu akuten Schmerzpatienten, frage Herr B. viel breiter und würde eine genauere Anamnese machen. Wie vorhergehend beschrieben, sollte die Planung möglichst konkret und ansprechend für die Patient_innen sein, damit Ziele realistisch erreichbar sind und Belohnung für Anstrengung bieten.

Dass der Therapieprozess bei chronischen Schmerzpatienten langfristig und voller Höhen und Tiefen ist, sollten im Voraus transparent mit den Patient_innen besprochen werden. Herr B. appelliert daran als Coach, Begleiter und Trainer die Patient_innen während der Therapie zu begleiten und ihnen nicht die Verantwortung abzunehmen mit zum Beispiel falschen Hoffnungen in die Wirkung von manueller Therapie.


„[…] das legt einem auch einen sehr, sehr großen Druck auf, wenn ich jetzt derjenige bin, der da Verantwortung trägt für den Schmerz des Patienten. Und die [Verantwortung] tragen wir denke ich nicht. Die Verantwortung für sein Verhalten und für sein Leben trägt der Patient und das ist ganz wichtig, dem Patienten das so rüberzubringen. […] ich kann keine Selbstwirksamkeit dem Patienten vermitteln, wenn ich die Verantwortung übernehme als Therapeut.“


Weiterentwicklung der Therapeut_innenrolle

Während des Interviews erwähnt er mehrmals, dass er schon häufig bei Therapien gescheitert sei, besonders am Anfang seiner Karriere. Das war besonders dann der Fall, als die Identität der Therapeutenrolle bei ihm noch nicht so gefestigt war und eigene Ansprüche und Vorstellung an die Therapie oft nicht mit der Realität der Patient_innen übereinstimmten. Aber auch das sei normal und solange man das Scheitern als Möglichkeiten nutzt, seine Rolle als Therapeut zu reflektieren und herauszufinden, wo der Fehler lag, sei es der beste Weg, für zukünftige Behandlungen zu lernen.

 

Weitere Informationen:
Der Artikel ist Teil einer Serie aus dem Modul „Bewältigung chronischer Schmerzen“ im primärqualifizierenden Studiengang „Physiotherapie/Ergotherapie“.