Lernen & Lehren, Menschen „Mich dürfte es hier eigentlich nicht geben“

ASH-Alumna Michaela Heinrich ist ein sog. Careleaver. Im Interview erzählt sie von ihrem ungewöhnlichen Weg ins Studium und ihrem Vorhaben, eine Hochschulgruppe für Careleaver zu gründen.

Das Thema Careleaver ist an der ASH Berlin bisher nicht präsent. Wer sind die Careleaver?

Heinrich: Careleaver sind junge Menschen, die im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe vollstationär untergebracht wurden, wie in Wohngruppen oder Pflegefamilien und die Fürsorge der stationären Jugendhilfe verlassen bzw. bereits verlassen haben.
Careleaver haben häufig keinen oder einen konfliktgeladenen Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie. Das Elternhaus ist aber immer noch entscheidend für den Bildungserfolg. Von 100 Kindern aus Familien, deren Eltern nicht studiert haben, nehmen ca. 1/5 ein Studium auf. Bei Kindern aus Akademikerfamilien sind es fast 75 Prozent. Betrachtet man die Kinder, deren Eltern keinen allgemeinen Schulabschluss haben, schaffen es gerade mal 1,4 Prozent der Kinder auf das Gymnasium und noch weniger den Sprung in die Hochschule. Welche Probleme das im Uni-Alltag mit sich bringt, ist bereits gut erforscht. Wie dagegen die Situation für Studierende ist, die sogenannte Careleaver sind, ist eher unbekannt.

Sie selbst sind auch ein Careleaver. Welche Hürden hatten Sie in diesem Zusammenhang zu nehmen?

Heinrich: Ja, ich bin ein sogenannter Careleaver und die Wahrscheinlichkeit, dass ich hier mit Ihnen aus meiner heutigen Perspektive sprechen darf, liegt bei weit unter einem Prozent.
Zu den Hürden kann ich sagen, dass diese sich größtenteils mit denen der Arbeiterkinder in Hochschulen decken. Aber bei Careleavern kommen in der Regel noch andere Dimensionen hinzu. Die Tatsache, keine emotionale und auch finanzielle Unterstützung von der Familie zu erhalten, Feiertage ohne Familie zu verbringen, keinen „sicheren Hafen“ zu haben, erschwert das Ganze enorm. Unter diesen Rahmenbedingungen können die einfachsten alltäglichen Herausforderungen des Lebens zu Existenzkrisen führen und zum Abbruch des Studiums.
Meine größte Hürde war es, überhaupt das Abitur zu schaffen. Ohne Unterstützung der Familie, die belastenden Themen, die ich mit mir trug und diesen skandalösen Druck von Seiten des Jugendamtes, dass die Hilfe ja bald beendet werden sollte und mir damit wieder ein Stück Sicherheit genommen wurde, das waren schwierige Rahmenbedingungen, die unbedingt verbessert werden müssen.

Sie haben sich für ein Studium entschieden. Wer oder was hat Ihnen zu dieser Entscheidung geholfen?

Es war für mich immer klar, dass ich mich für die Belange von Kindern und Jugendlichen einsetzen wollte. Das Studium der Sozialen Arbeit und gerade auch der Master „Praxisforschung in Soziale Arbeit und Pädagogik“ haben es mir ermöglicht, sowohl die Menschen und Familien bei entsprechenden Bedarfen adäquat begleiten und unterstützen zu können als auch auf politischer Ebene aktiv zu werden.  

Und gibt es heute, wo Sie studiert sind und einen Job haben, immer noch Hürden? 

Heinrich: Eine weitere wichtige Hürde ist der eigene professionelle Umgang mit Familien. Ich war selbst in einer Einrichtung als Erzieherin tätig und arbeite heute als Sozialarbeiterin im Sozialpädiatrischen Zentrum der Charité mit chronisch kranken Kindern und ihren Familien. Dort bin ich auch Mitglied der Kinderschutzgruppe. Die eigene Betroffenheit kann hilfreich im Umgang mit den Kindern, Jugendlichen und Familien insgesamt sein, jedoch nur, wenn die eigene Geschichte gut bearbeitet wurde. Anderenfalls besteht die Gefahr, dass z.B. kinderschutzrelevante Situationen triggern können und somit das professionelle Handeln gefährdet ist.

Welche Unterstützung hätten Sie sich damals als Studentin gewünscht? 

Heinrich: Als ich an der ASH Berlin Soziale Arbeit studiert habe, fühlte ich mich anfangs wie ein Fremdkörper, nicht zugehörig. Ich hatte ständig das Gefühl mich beweisen zu müssen, mir zu beweisen, dass ich sehr wohl dazugehöre. Meine Strategie war es, mich hochschulpolitisch und im sozialpolitischen Bereich zu engagieren und dies in einem Umfang, der, neben dem Job, kaum zu bewältigen war.
Es hätte mich bestärkt zu wissen, dass ich nicht alleine bin, zu wissen, dass es noch andere Studierende gibt, die eine ähnliche Biografie aufweisen. Genau aus diesem Grund möchte ich eine Hochschulgruppe ins Leben rufen, in der Careleaver sich begegnen und austauschen können. Ich würde hier nur anfangs teilnehmen und mich zurückziehen, da es ein Ort für Studierende sein soll. Als Ansprechpartnerin würde ich aber immer zur Verfügung stehen.

Wie kann die Hochschule Careleaver unterstützen? 

Heinrich: Es wäre großartig, wenn etwa im Rahmen eines Projektseminars der Übergang von der Jugendhilfe in die Selbständigkeit thematisiert werden würde. Das Problem, dass junge, teils traumatisierte und oft aus schwierigen Verhältnissen stammende Menschen bereits mit 16 Jahren in eine eigene Wohnung (BEW) ziehen sollen, um dann mit 18 Jahren aus der Jugendhilfe entlassen zu werden, ist seit längerer Zeit bestehende – oft rechtswidrige – Praxis. Eine Bewilligung der Hilfemaßnahme bis zum Ende des Schulabschlusses bzw. der Ausbildung, wenn denn die jungen Menschen es wünschen, ist leider sehr oft nur den engagierten Mitarbeiter_innen der entsprechenden Träger zu verdanken. Diese wiederum stehen aber auch in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Jugendamt. Auf der anderen Seite ist die Haushaltslage in Berlin wie sie halt ist: miserabel! Die betroffenen jungen Menschen kennen oft weder ihre Rechte noch wie man sie durchsetzen kann. Natürlich kann bzw. soll Jugendhilfe bei vorliegendem Bedarf auch über das 18. Lebensjahr bewilligt werden (§41 SGB VIII). Hier möchte ich gern ansetzen. Der Berliner Rechtshilfefonds Jugendhilfe e.V. (BRJ) und das Careleaver Kompetenznetz setzen sich genau für diese Zielgruppe ein und versuchen im Rahmen verschiedener Projekte sowohl die jungen Menschen als auch Fachkräfte zu informieren und in der Rechtsdurchsetzung zu unterstützen.

Ihnen selbst hat auch ein Stipendium finanziell geholfen.

Heinrich: Dank einer Kommilitonin habe ich mich um ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung beworben und eine Zusage erhalten. Das Stipendium hat mich unglaublich motiviert und bestärkt. Hätte die Kommilitonin mich damals nicht darauf angesprochen, wäre ich selber nie auf die Idee gekommen, für ein solches Stipendium überhaupt in Frage zu kommen. Zu diesem Thema könnte die Hochschule mehr Informationsveranstaltungen durchführen.

 

Zur Person:
Michaela Heinrich hat an der ASH Berlin den Bachelor Soziale Arbeit und den Master Praxisforschung in Sozialer Arbeit und Pädagogik studiert. Aktuell ist sie als Gastdozentin an der ASH Berlin und als Sozialarbeiterin an der Charité beschäftigt, wo sie auch promoviert. Sie ist unter anderem Mitglied bei Careleaver e.V., beim Careleaver Kompetenznetz und beim Berliner Rechtshilfefonds Jugendhilfe e.V..
Careleaver-Gruppe an der ASH Berlin:

Interessierte können sich gerne bei Michaela Heinrich melden:
michaela.heinrich@ avoid-unrequested-mailscharite.de