...und dann kam Corona Kinderschutz in Zeiten von Kontaktbeschränkungen

Kamingespräch des Kooperationsnetzwerks „QE-WiPrax“ des Masterstudiengangs „Kinderschutz - Dialogische Qualitätsentwicklung in den Frühen Hilfen und im Kinderschutz“

Ein Kind hält seine Hände vor sein Gesicht die mit bunter Farbe bemalt sind
Ein Kind hält seine Hände vor sein Gesicht die mit bunter Farbe bemalt sind Sharon Mc Cutcheon von Pexels

Das Kooperationsnetzwerk „Qualitätsentwicklung in Wissenschaft und Praxis“ (QE-WiPrax) des weiterbildenden berufsbegleitenden Masterstudiengangs „Kinderschutz - Dialogische Qualitätsentwicklung in den Frühen Hilfen und im Kinderschutz“ der ASH Berlin arbeitet seit seiner Gründung im Jahr 2015 engagiert für einen gegenseitigen Wissenstransfer zwischen der Hochschule und der praktischen Sozialen Arbeit – im Sinne der Förderung von solidarischer, demokratischer und dialogischer Kinderschutzarbeit.

Für das Jahr 2020 hatte das Netzwerk – in Zusammenarbeit von Alice Salomon Hochschule Berlin und Trägern der freien sowie öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe – eine spannende Fachtagsreihe zum Thema „Sozialpädagogische Gefährdungseinschätzung“ im Kinderschutz geplant. Themenschwerpunkte sollten z.B. die Aufgaben und Rollen der Sozialen Arbeit im Kinderschutz, die professionelle Haltung, das sozialpädagogische Fachwissen und Fallverstehen, die Beteiligung (insbesondere der Eltern und Kinder/Jugendlichen), die Kooperation und Vernetzung zwischen Professionen bei der Gefährdungseinschätzung sein.
Aufgrund der Covid-19 Pandemie und der Kontaktbeschränkungen musste selbstverständlich auch diese Veranstaltungsreihe unerwartet und plötzlich auf unbestimmte Zeit verschoben werden.

Wenn es die originäre Aufgabe der Sozialen Arbeit im Kinderschutz ist, mit Familien in Kontakt zu kommen, wie dem in Zeiten von strengen Kontaktbeschränkungen gerecht werden?

Während keine persönlichen Treffen zum fachlichen Austausch möglich waren, war der Bedarf an eben diesem umso größer: Der sozialpädagogischen Kinderschutzarbeit stellten sich während des Lockdowns enorme und unerwartete Herausforderungen. Soziale Isolation, der Wegfall von offenen Unterstützungsangeboten, von Kitas und Schulen und die große Frage: Wenn es die originäre Aufgabe der Sozialen Arbeit im Kinderschutz ist, mit Familien in Kontakt zu kommen, wie dem in Zeiten von strengen Kontaktbeschränkungen gerecht werden?

Im Netzwerk „QE-WiPrax“ kam die Idee auf, der Situation und seiner Aufgabe dadurch gerecht zu werden, ein virtuelles Treffen via Zoom für alle Interessierten zu veranstalten. Es sollte (im Sinne eines „Kamingesprächs“) schlicht ein Raum zum Dialog, zum Erfahrungen-Austauschen und Reflektieren angeboten werden, wie die sozialpädagogische Kinderschutzarbeit während der Corona-Pandemie umgesetzt wurde und wird, welche Ideen es für einen erfolgreichen Umgang mit den gestellten Herausforderungen gibt – auch im Hinblick auf die Zukunft.

Gesagt, getan: Am 15. Juni 2020, von 18-20 Uhr, fand das „Kamingespräch – Kinderschutz in Zeiten von Kontaktbeschränkungen“ statt. Fünfzehn Teilnehmende – Studierende und Absolvent_innen des M.A. Kinderschutz, Lehrende sowie Praxispartner_innen aus Trägern der freien Kinder- und Jugendhilfe, aus dem Jugendamt (öffentlicher Träger der Kinder- und Jugendhilfe) und dem Gesundheitsamt – berichteten von ihren Erfahrungen der letzten Monate, von den Herausforderungen, Missständen sowie Erfolgen. Persönliche Eindrücke und fachliche Einschätzungen wurden gleichermaßen geteilt. Die Beiträge machten deutlich, wie wichtig solch eine Möglichkeit zum ernsthaften und feinfühligen Dialog ist – und dass dies auch im virtuellen Raum möglich ist.

Einige zentrale Inhalte, im Hinblick auf die sozialpädagogische Kinderschutzarbeit während der Corona-Pandemie, kristallisierten sich im Laufe der Veranstaltung heraus. Diese werden im Folgenden in 3 Punkten zusammengefasst:

1. Verlässliche Kooperationen müssen bereits vor einer Krise aufgebaut werden

Sehr deutlich wurde, welch enorme Disparitäten sich (vor sowie auch mit Corona) in der sozialpädagogischen Kinderschutzpraxis zeigen, was die Fachlichkeit und Haltung gegenüber den Familien betrifft.

Was vor Corona gut funktionierte, funktioniert auch trotz Corona gut: Wo schon vorher solidarisch und demokratisch mit Familien gearbeitet wurde, konnte auch während des Lockdowns, über kreative und individuelle Formen der Sozialen Arbeit, der Kontakt aufrecht erhalten werden – Familien konnten somit, trotz der Ausnahmesituation, durchaus beständig durch die Fachkräfte unterstützt werden. Wo schon vor Corona Kooperationen zwischen öffentlichen und freien Trägern partnerschaftlich gestaltet wurden und gut funktionierten, wurden auch während der Krise tragfähige Wege und Lösungen der Zusammenarbeit gefunden.

Allerdings zeigte sich im Gegenteil auch, dass Kooperationen und Fallarbeit fachlich nicht gut aufrecht erhalten werden konnten – dort, wo die Strukturen bereits vor Corona fragil und wenig partnerschaftlich-unterstützend waren. Die Mängel der technischen und digitalen Ausstattung (vor allem der Jugendämter) zeigten sich als  nunmehr existenzbedrohend für die Aufrechterhaltung einer fachlich guten und erfolgreichen Arbeit. Es wurde deutlich: Hier bedarf es dringender Veränderung und Weiterentwicklung!

2. Die Pandemie verschärft soziale Ungleichheiten

Die Beobachtungen und Erfahrungen der Teilnehmenden bestätigten zudem, dass die Pandemie soziale Ungleichheiten verschärft/e. Menschen, die vor Corona bereits von Armut betroffen oder in prekären Arbeitsverhältnissen waren, wurden nunmehr existentiellen Bedrohungen ausgesetzt. Das Homeschooling setzt Zeit, Wissen, vorhandene Computertechnik und familiäre Stabilität voraus – wenn diese Ressourcen nicht vorhanden sind, entstehen bei den jungen Menschen Bildungslücken und  -nachteile, die möglicherweise nicht oder lediglich sehr schwer wieder aufgeholt werden können. Menschen, die ohnehin von physischen und psychischen oder altersbedingten Einschränkungen betroffen sind, sind durch die Pandemie enormen Belastungen ausgesetzt, die ihre Gesundung bzw. gesellschaftliche Teilhabe zusätzlich erschweren.

Diese Einschätzungen der Fachkräfte des Netzwerkes werden durch aktuelle Ergebnisse einer Kooperationsstudie der Universitäten Hildesheim, Frankfurt, Bielefeld bestätigt (vgl. Andresen et al. 2020a; Andresen et al. 2020b).

3. Verantwortung für die Gewährleistung von Menschenrechten und Menschenwürde übernehmen

Durch den Wegfall der öffentlichen Verantwortung bzw. der Unterstützungsstrukturen im sozialen Umfeld, waren Familien während des Lockdowns auf sich selbst verwiesen. Die sozialpädagogischen Fachkräfte sind nun in der Gefahr, diese Bedingungen einer fehlenden familienfreundlichen Umwelt nicht ausreichend zu reflektieren und Defizite allein den Familien zuzuschreiben. Die Jugendämter kommen in Gefahr, Kinderschutz vor allem als ein repressives Eingreifen in Familien zu praktizieren. Hierdurch werden jedoch lediglich soziale Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten und Gewaltverhältnisse gestützt und deren Reproduktion gefördert, anstatt nachhaltige Verbesserungen und den Schutz von jungen Menschen zu gewährleisten.

Menschenrechte und Menschenwürde – das machten die Berichte der Teilnehmenden deutlich – wurden im Kontakt zu den Familien nicht durchgängig aufrechterhalten. Dass Fachkräfte der Sozialen Arbeit dabei selbst aktiv beteiligt sind, macht, nach allen Erfahrungen des Unrechts und der Gewalt in sozialen Institutionen, mehr als nachdenklich. Manche macht es auch fassungslos und wütend.

Vor sowie auch während und nach dem Lockdown, zeigte und zeigt sich gute Soziale Arbeit in besonderem Maße daran, inwieweit die Fachkräfte bereit sind, Verantwortung zu übernehmen – nicht nur für sich selbst und nicht nur im Rahmen ihrer professionellen Rolle und Aufgaben, sondern auch für andere Menschen und insbesondere für vulnerable Mitglieder der Gesellschaft, die Adressat_innen der Sozialen Arbeit sind. Die Erfahrungen der Teilnehmenden des Kamingesprächs während der Corona-Pandemie beschrieben eindrücklich, dass es für gute und erfolgreiche Soziale Arbeit und eben auch Kinderschutzarbeit, neben der Fachlichkeit, dem Wissen und dem Können, ganz wesentlich auf die humane Gestaltung sozialer Dienstleistungen und die professionelle Haltung gegenüber Menschen ankommt. Dazu gehören: Die menschenwürdige soziale Unterstützung, das ehrliche Interesse am Gegenüber, das Nicht-Wegschauen, das An- und Aussprechen, das Zupacken, das konkrete Hilfe leisten, die persönliche Involviertheit, der direkte Kontakt, das wirkliche Für-jemanden-da-sein!

Ausblick

Die Teilnehmenden waren sich einig, dass sie das Format des virtuellen Kamingesprächs sehr gerne wiederholen und sich auf diesem Wege wiedertreffen und austauschen möchten. Diesem Wunsch wird selbstredend nachgekommen. In Kürze folgt die Einladung zum zweiten Kamingespräch des Netzwerks „QE-WiPrax“. Auch der Folgetermin ist offen für alle Interessierten, auch für die, die am 15. Juni nicht dabei waren. Kommen Sie gerne hinzu!

Bei Rückfragen oder Sonstigem wenden Sie sich gerne an die Koordinatorin des Netzwerks, Lucia Druba (lucia.druba@ avoid-unrequested-mailsash-berlin.eu).

 

Literatur
Andresen, S.;Lips, A.; Möller, R.; Rusack, T.; Schröer, W.;Thomas, S.; Wilmes, J. (2020a): Kinder, Eltern und ihre Erfahrungen während der Corona-Pandemie. Erste Ergebnisse der Studie „JuCo – Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen“. Hildesheim: Universitätsverlag Hildesheim.
Andresen, S.;Lips, A.; Möller, R.; Rusack, T.; Schröer, W.;Thomas, S.; Wilmes, J. (2020b): Kinder, Eltern und ihre Erfahrungen während der Corona-Pandemie. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie KiCo. Hildesheim: Universitätsverlag Hildesheim.

 

Regina Rätz:
Professorin für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe;  wissenschaftliche Leitung des M.A. ‚Kinderschutz‘

Lucia Druba:
Sozialpädagogin im Familienintegrativen Projekt ‚SindBad63‘; freie Mitarbeiterin der ASH Berlin - Koordination des Netzwerks ‚QE-WiPrax‘