Das erste Mal nach pandemiebedingter Pause konnten Studierende und Lehrende des PT/ET-Studiengangs im Mai wieder eine kleine Studienfahrt zum jährlich stattfindenden Ergotherapie-Kongress durchführen. Der diesjährige Kongress des DVE (Deutscher Verband Ergotherapie) fand vom 19.- 21. Mai 2022 in Bielefeld unter dem Motto „Profil schärfen“ statt. Frank Kronenberg, ein international bekannter Ergotherapeut, Aktivist und Wissenschaftler, der mit seiner Familie in Südafrika lebt, eröffnete den Kongress mit einem Vortrag über das Menschlichsein und der Bedeutung der Menschlichkeit in der Ergotherapie. An dem Kongress nahmen rund 1.600 Ergotherapeut_innen, Studierende und Auszubildende aus ganz Deutschland teil - eine Rekordzahl, die sicherlich auch dem großen Bedürfnis nach persönlichem Austausch nach zwei Jahren pandemiebedingter Pause geschuldet war.
Erfreulicherweise wurde eine der beiden Innovationspreise der Ergotherapie an eine ASH-Alumni des PT/ET-Studiengangs, Katja Stolte, verliehen. Basierend auf ihrer Bachelorarbeit von 2018 mit dem Titel ‚Let’s talk about Sex‘ entwickelte und veröffentlichte sie ein Konzept, das Ergotherapeut_innen darin unterstützt, einen souveränen Umgang mit dem Thema Sex in der Ergotherapie zu finden und für das sie nun ausgezeichnet wurde. So sollen in der Ergotherapie, die Menschen in ihren Alltagsbetätigungen unterstützt, auch sensible und intime Themen des Alltags angesprochen werden können, wenn diese bspw. durch eine Erkrankung beeinträchtig sind. Eine weitere Überraschung war, dass der ehemalige Schulleiter der Wannseeschulen, mit der die ASH Berlin im Rahmen der primärqualifizierenden Studienform PT/ET kooperiert, mit der Ehrennadel des DVE für seine langjährigen Verdienste in der Ergotherapie gewürdigt wurde. Als damaliger Leiter der Berufsfachschule hat Joachim Rottenegger auch an der Entwicklung des PT/ET-Modellstudiengangs an der ASH Berlin mitgearbeitet und diese unterstützt.
Nach der Auftaktveranstaltung gab es in den nächsten Tagen auf dem Kongress vielfältige Themen, Vorträge, Workshops und Anregungen, die alle so inspirierend waren, dass sie von Beginn an Lust auf die eigene Wissenserweiterung machten.
„Es war wirklich furchtbar. Schon am ersten Tag habe ich sieben Weiterbildungen entdeckt, die ich gerne machen würde. Zum Ende des Kongresses wurde mir dann nochmal bewusst, was wir als Studierende für Privilegien im Vergleich zu manchen Auszubildenden haben. Manche berichteten von massenhaften Ausfällen und Unterrichtsstunden, die teilweise nichts mehr mit Ergotherapie zu tun hatten." (Svenja Funke, 2. Semester ET)
Durch die vielen Gespräche und Vorträge, die der Kongress bot, wurde nicht nur die Qualität des eigenen Studiums deutlich, sondern auch, wie gut die teilnehmenden Studierenden der ASH Berlin bereits an aktuelle fachliche Diskurse der Ergotherapie anknüpfen konnten, obwohl die meisten von ihnen erst am Beginn ihres Studiums standen.
„Mir wurde auf einer persönlichen Ebene bewusst, wie privilegiert wir als Studierende der Ergotherapie gegenüber vielen Menschen sind, die eine Ergotherapie-Ausbildung gemacht haben oder sich in einer solchen befinden. Viele zeitgenössische und progressive Inhalte, die für uns ganz selbstverständlich ins Curriculum integriert wurden, müssen sich die meisten ‚Anderen‘ mühsam selbst erarbeiten oder durch aufwendige und oft auch teure Fortbildungen aneignen. Einige Äußerungen von Berufsfachschüler_innen, die über ihre teils lückenhaften und zusätzlich durch das föderale System ungleichen Lehrpläne berichteten, kamen mir emotional nah. Diese Menschen sind genauso begeistert von Ergotherapie wie wir und erhalten trotzdem nicht dieselbe Ausbildungsqualität. Diese ungerechte und exklusive Ungleichheit des Ausbildungsniveaus in Deutschland war mir vorher in ihrem Ausmaß nicht bewusst und ist ein Grund mehr, warum die Vollakademisierung kommen muss.“ (Thomas Strecker, 2. Semester ET)
Ein weiteres Statement für die nötige Akademisierung der Ergotherapie boten indirekt auch viele der praxisorientierten Vorträge auf dem Kongress. Viele der jüngeren Vortragenden waren selbst ehemalige Bachelor- und Masterstudierende verschiedener deutscher Ergotherapiestudiengänge, die sich in ihren inspirierenden Vorträgen wissenschaftlich fundiert mit ihrer ergotherapeutischen Praxis auseinandersetzten, neue Themen einbrachten oder eigene Forschungsprojekte vorstellten. Auch zwei aktuelle Absolventinnen des PT/ET-Studiengangs taten hierzu einen ersten Schritt. Selina Röcker und Mareike Lutz waren auf dem Kongress mit wissenschaftlichen Postern zu den Ergebnissen ihrer Bachelorarbeiten vertreten. Die Deutsche Gesellschaft für Ergotherapiewissenschaft (DGEW), die 2018 an der ASH Berlin gegründet wurde, und die Deutsche Gesellschaft für Occupational Science (dOS) e.V. konnten zeigen, wie Wissenschaftlichkeit und die Betätigungswissenschaft (Occupational Science) in ihrer Bedeutung für die deutsche Ergotherapie zunehmen und auf ein wachsendes Interesse bei in der Praxis tätigen Ergotherapeut_innen stoßen. Beide Ergotherapieprofesssorinnen des PT/ET-Studiengangs, Prof. Elke Kraus und Prof. Silke Dennhardt, sind in der DGEW und dOS aktiv. Auch Studierende konnten auf dem Kongress ihr Interesse an ergotherapeutischer Forschung vertiefen und hier erste Kontakte knüpfen.
„Der Besuch des Ergotherapie-Kongress im Mai 2022 ist ein Highlight meines bisherigen Studienverlaufs gewesen. Es war toll, außerhalb des kleinen PQS-Studiengangs der ASH Berlin auf so viele Ergotherapeut_innen, Lehrende und Lernende zu treffen. Da ich mich sehr für Forschung interessiere, habe ich mich besonders über den Vortrag von Helen Strebel und Claudia Merklein de Freitas zum Thema Bezugswissenschaften und entsprechender Interventionsgestaltung gefreut sowie über die Vorstellung der Deutschen Gesellschaft für Ergotherapiewissenschaft e.V. (DGEW) und der Arbeitsgruppe „deutsche Occupational Science“ (dOS). Des Weiteren konnte ich die Gelegenheit wahrnehmen, mich zu möglichen Masterstudiengängen beraten zu lassen. Hier bot der persönliche Kontakt zu anderen Studierenden einen wichtigen Mehrwert, um Fragen zu Wohnmöglichkeiten, Berufstätigkeit und Vereinbarkeit von Studium und Familie im direkten Gespräch zu erörtern.“ (Merle Kuckulenz, 4. Semester ET)
Aber auch aktuelle Themen und Fragen der Ergotherapie, wie die Bedeutung der Klimakrise für die Gesundheit und die Situation Geflüchteter aus der Ukraine standen im Zentrum des Kongresses. Zusammen mit Logopäd_innen und Physiotherapeut_innen engagieren sich Ergotherapeut_innen in einer Gruppe ‚Health for Future‘ für mehr Umweltschutz und Nachhaltigkeit in den Gesundheitsberufen. Sie präsentierten die Ergebnisse ihrer Arbeitsgruppe und ein klares Statement, dass Klimaschutz gleich Gesundheitsschutz ist. Eine weitere interdisziplinäre Gruppe, deren Symposium aufgrund der Aktualität noch kurzfristig in das Kongressprogramm aufgenommen wurde, befasste sich mit der aktuellen Situation und Hilfe Geflüchteter aus der Ukraine. Nach einer Podiumsveranstaltung zu Flucht, Trauma und Traumafolgestörungen konnten sich Ergotherapeut_innen in einer anschließenden Ideenwerkstatt austauschen und kleine Netzwerke für ihre Praxis bilden. Einen weiteren Schwerpunkt bildete eine Vortragsreihe für Ergotherapeut_innen im psychiatrischen Arbeitsfeld. Hier gab es bspw. eine Diskussion über die Zunahme psychischer Erkrankungen, ein Streitgespräch zur Recovery und die Auseinandersetzung mit spezifischen ergotherapeutischen Interventionen. Auch neue Praxiskonzepte, wie z.B. ein Interventionskonzept zur Förderung der sozialen Partizipation von Menschen mit chronisch psychischen Erkrankungen, boten Stoff zum Nachdenken und zur Diskussion.
„Ganz besonders nachhaltig berührt hat mich der Vortrag über ZEPS (Zugehörigkeit erleben - Perspektiven schaffen). Die innere Haltung, den Klient_innen Raum zu geben. Raum für den Wunsch nach Veränderung, ohne den Druck, dass Veränderung passieren muss. Und das Teilhabe schon sein kann, Stühle für ein Gruppentreffen aufzustellen, ohne später daran teilnehmen zu müssen." (Nadine Meier, 2. Semester ET)
Der Kongress und die Studienfahrt bot allen Teilnehmenden vielfältigen ‚Input‘ für alle Praxisbereiche der Ergotherapie, wie der Pädiatrie, Psychiatrie, Geriatrie, Neurologie, dem motorisch-funktionellen Bereich und der arbeitsbezogenen Ergotherapie. Wir können hier nur einige exemplarisch vorstellen. Neben praxisspezifischen Themen gab es Vorträge und Diskussionen zur Inklusion, zu Diversität und Ableismus in der Ergotherapie, oder zur Rolle der Ergotherapie in der Palliativversorgung. Es wurden Theoriekonzepte, wie die Betätigungsbalance und Forschungsprojekte, wie bspw. JADE, vorgestellt. JADE (Jobcoaching zur Arbeitsplatzsicherung Definieren und Evaluieren) hat die Profilbildung von Jobcoaching zur betrieblichen Inklusion von Menschen mit Behinderung unmittelbar am Arbeitsplatz zum Ziel. Parallel zu den Vorträgen und Workshops gab es eine begleitende Fachausstellung, in der neue Entwicklungen, Anregungen und Impulse zu Produkten, Hilfsmitteln, Therapiematerialen, Software und vieles mehr angesehen und ausprobiert werden konnte sowie natürlich auch eine Mitgliederversammlung des Verbandes, in der durch die Vorstandswahlen politische Mitverantwortung für die weitere Entwicklung der Profession übernommen werden konnte.
Alles in allem waren es ein reichhaltiger Kongress, mit vielen Möglichkeiten für Gespräche mit Ergotherapeut_innen, Forschenden, Lehrenden und Lernenden aus ganz Deutschland und eine gelungene und lebendige Studienfahrt des PT/ET-Studiengangs, die im nächsten Jahr sicherlich eine Fortführung findet.