Lernen & Lehren In der Kontinuität liegt die Kraft - Intergenerative Soziale Kulturarbeit

Bericht von der Tagung „Alte, Studis und ein Raum dazwischen“ im Januar 2025

Gleich vor dem Audimax in der Alice Salomon Hochschule Berlin werden die Besucher_innen eingeladen aktiv mitzumachen. „Was verbindet ihr mit ‚Schweigen‘?“, werden die Interessierten gefragt und es wird deutlich, die Antworten könnten nicht unterschiedlicher ausfallen. Von „Lügen“ über „Behaglichkeit“ bis hin zu „Friedhof“ ist einiges an Impressionen vorhanden.

Am 23. Januar 2025 fand an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin (ASH) eine besondere Veranstaltung statt: „Alte, Studis und ein Raum dazwischen. Intergenerative soziale Kulturarbeit in praxisnaher Lehre“. Die hybride Veranstaltung verband Forschung mit Kunst und Diskussion. Mein erster Gedanke, als sich das Audimax zu Beginn der Veranstaltung langsam füllt: So viele Lehrende habe ich hier noch nie auf einmal gesehen. Es fällt auf, dass für eine Hochschule ungewohnt viele ältere Menschen anwesend sind. Dann wird mir klar: Das sind Schauspieler_innen.

Gleich zu Beginn habe ich die Möglichkeit mit einem der Studierenden und Teilnehmer des Projektes „Theater der Erfahrungen“ zu sprechen: Wie es sei, in einem intergenerativen Ensemble mitzuspielen, frage ich. 
„Ich muss zugeben, ich war am Anfang nicht so überzeugt, aber obwohl wir uns nur vier oder fünf Mal getroffen haben, haben wir richtig eine Beziehung aufgebaut“, erklärt er mir und weiter: „Das besondere sind die unterschiedlichen Erfahrungen, die die unterschiedlichen Generationen mitbringen… darum geht es zum Teil auch in dem Stück“. 
Und worum geht es nun in dem Stück? 
Er grinst: „Um’s Schweigen – ein bisschen Dystopie.“ 
Mehr will er nicht verraten.

Zum Auftakt begrüßen Prof. Dr. Gesine Bär, Prorektorin für Forschung an der ASH Berlin, und Prof. Dr. Gabriele Schlimper, Geschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Berlin. 
Prof. Bär hebt hervor, dass Hochschulen ein Ort für kritische gesellschaftliche Debatten sein müssen. Sie verweist auf die kürzliche Besetzung des Audimax durch propalästinensische Studierende und erklärt: „Nicht jedes gesellschaftliche Problem kann auf die Polizei abgeschoben werden.“ In ihrem Plädoyer für soziale Kulturarbeit unterstreicht sie die Notwendigkeit, gesellschaftliche Themen sichtbar zu machen und Räume für Dialog zu schaffen.
Prof. Schlimper beleuchtet im Anschluss die Arbeit des Theaters der Erfahrungen als Beispiel für gelebte soziale und kulturelle Arbeit. Sie geht auf die heutigen Herausforderungen des Alterns ein: Einsamkeit als Gesundheitsrisiko, Diversität der Lebensentwürfe im Alter und Altersdiskriminierung. Besonders eindringlich sei für sie ein Gedankenexperiment gewesen, bei dem sie die Begriffe „ältere Menschen“ in einem Zeitungsartikel über Rentenpolitik durch „Migrant_innen“ ersetzte. Zum Vorschein trat ein Artikel mit geradezu „himmelschreiender Diskriminierung“. Als Konsequenz fordert Schlimper zum Abschluss nicht weniger als einen gesetzlichen Anspruch Älterer auf Beratung und Unterstützung, ähnlich dem Vorbild der Kinder- und Jugendhilfe.

Intergenerative Performance “Wieso schweigt Ihr so laut?”

Das Theater der Erfahrungen ist ein seit 1980 bestehendes mobiles Theater des Nachbarschaftsheims Berlin-Schöneberg. Drei interkulturelle Ensembles für ältere Schauspieler_innen vereint das Theater der Erfahrungen unter einem Dach: „Spätzünder“, „Ostschwung“ und „Die Bunten Zellen“.

Das Intergenerative Theaterstück "Wieso schweigt Ihr so laut?", unter der Leitung von Margherita Vestri vom Theater der Erfahrungen und Lehrbeauftragte an der ASH Berlin, ist Teil des Tagungsprogramms. Hier haben sich Schaupieler_innen der Theatergruppe "Die Bunten Zellen" und Studierende der ASH Berlin mit dem Thema „Schweigen“ beschäftigt und bringen ihr kürzlich gemeinsam erarbeitetes Stück auf die Bühne. 

Es beginnt mit: Stille. 
Alle Schauspieler_innen tragen schwarz. 
Einzig und allein das beharrliche Abrollen des Klebebands durchbricht das Schweigen. Das Publikum wird mit KIebeband am Boden vom Bühnengeschehen symbolisch isoliert. Im Stück werden Worte zur Währung. Jede_r Bürger_in hat nur 100 Wörter pro Tag zur Verfügung. Zusätzliche Worte kosten extra - in Form von buchbaren Zusatzpaketen. 
Doch die Betroffenen setzen sich zur Wehr: „Gebt uns unsere Stimme zurück“, steht auf einem Schild. 
Oder auch: „Sprache ohne Gebühren“. 
Worte seien „unbezahlbar“ lautet das Kredo. 
Szenenwechsel: Eine typische U-Bahnszene in Berlin: Ein Musiker versucht sich in der Bahn etwas dazuzuverdienen, nur hören werden wir nichts. Eine Frau tritt hervor. Sie erzählt aus ihrem Leben: Viele Kurd_innen, wie sie, hätten ihre Heimatdörfer verlassen müssen. Soldaten zwangen alte und junge Menschen sich auszuziehen, töteten Nutztiere und verbrannten ihre geliebten Walnussbäume. Ein anderer erzählt von den Widrigkeiten des Ankommens in Deutschland. 
Das Theater der Erfahrungen macht zum 40. Jubiläum seinen Namen zum Programm.

Forschungsergebnisse zur Kooperation der ASH Berlin mit dem Theater der Erfahrungen

Schließlich stellen Prof. Johanna Kaiser und Dr. Nadin Tettschlag Ergebnisse ihrer qualitativen Studie zur Kooperation zwischen der ASH Berlin und dem Theater der Erfahrungen seit 2008 vor. Ziel der Forschung sei gewesen, Bildungsprozesse, Chancen und Herausforderungen intergenerativer Zusammenarbeit in Lehr-Lern-Formaten zu beleuchten. So ließe sich u.a. herausstellen, dass die Gruppe der jüngeren Studierenden vor allem Alltags- und Diskussionswissen mitbrächten, während die Schauspieler_innen vor allen Dingen Theatererfahrung und im Allgemeinen Erfahrungswissen hinsichtlich Lebenskrisen und beruflichen Herausforderungen mitbrächten. 
Aber im Theater, im Spiel, so Kaiser, würden die Altersgrenzen mitunter verschwimmen.

Tanztheater als Resonanzraum zwischen den Generationen

Von der Hochschule Niederrhein zugeschaltet, kommt Prof. Dr. Felicitas Lowinski zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Im Rahmen ihrer Projektreihe „Tanztheater als Resonanzraum zwischen den Generationen“ ließe sich anhand von Projekttagebüchern der Studierenden und älteren Schauspieler_innen und Videoaufzeichnungen von Proben die Notwendigkeit ebensolcher Projekte herausstellen. Vielerorts würden generative Vorurteile und Nicht-Begegnung gesellschaftlich vorherrschen. Gleichzeitig brächten ältere und jüngere Teilnehmer_innen teils sehr unterschiedliche Erfahrungen und Lebenslagen mit. Für die teilnehmenden Studierenden unterlägen intergenerative Ensembles weniger einem Leistungsdruck und die älteren Schauspieler_innen erlebten die Proben mit den „Studis“ als durchaus dynamischer, beweglicher und insgesamt mutiger.

Podiumsdiskussion: Raum für Begegnung

Den Abschluss bildete eine Podiumsdiskussion, moderiert von Prof. Dr. Andrea Plöger. Vertreter_innen aus Wissenschaft, Lehre und Praxis diskutieren die Frage: „Was braucht es für eine gute Weiterentwicklung von Hochschule-Praxis-Kooperationen?“

Margherita Vestri plädiert beispielsweise dafür, trotz des chronischen Zeitmangels bei Studierenden und z.T. Senior_innen „Raum für Kreativität, Zuhören und Begegnung“ zu ermöglichen. Während Studierende, neben wenig Zeit häufig auch weniger Theatererfahrungen mitbrächten, seien sie dafür umso motivierter. Der Schauspieler Durmuş Çakmak betont indes Kontinuität als wertvoll. Er habe schon in der Grundschule Theater gespielt, „2001 hat dann Johanna [Kaiser] meine Telefonnummer bekommen. Seitdem spielten und arbeiteten wir im Theater der Erfahrungen und heute auch an der Hochschule.“ Intergenerative Ansätze ließen laut eines weiteren Redebeitrags „zwei Welten aufeinanderprallen: Hochschule und ältere Gruppen folgen schon sehr unterschiedlichen Logiken“, was es gelte, bei der Konzeption intergenerativer Kulturprojekte zu berücksichtigen.

Die Veranstaltung endet mit einem Grußwort des Dekans Prof. Dr. Heinz Stapf-Finé, der eine intergenerative Kulturarbeit als herausfordernden, aber lohnenswerten Teil der Sozialen Arbeit hervorhebt – nicht ohne zu betonen, dass Räume zwischen Menschen mit verschiedenen Erfahrungen und Dialoge zwischen diesen, nicht einfach da sind. Sie müssten aktiv geschaffen, unterstützt, genutzt und verteidigt werden. „In den Theaterprojekten geht es jedoch nicht um Nostalgie, nicht darum was am Weihnachtsbaum hängt“, so Johanna Kaiser, „sondern um das, was gesellschaftlich relevant ist.“ 

 

Zur Info:
Am 23. Januar 2025 fand an der Alice Salomon Hochschule Berlin die Hybrid-Tagung "Alte, Studis und ein Raum dazwischen - Intergenerative Soziale Kulturarbeit in praxisnaher Lehre" statt. 
Konzeption & Durchführung: Prof. Johanna Kaiser, Carolin Pieper & Dr. Nadin Tettschlag
Kontakt: theater@ avoid-unrequested-mailsash-berlin.eu