Lernen & Lehren Im Schreib-Workshop mit Maxi Obexer

oder: Warum die Wirklichkeit nach verschiedenen literarischen Formen verlangt

Maxi Obexer sitzt an einem Tisch und schaut in die Richtung der Workshop-Teilnehmenden
Im Workshop arbeitete Maxi Obexer mit den Teilnehmenden heraus, warum es so wichtig ist, sich immer wieder neu auf die Suche nach der dem Material angemessenen Form zu machen. Sonja Knecht

Die Theater-, Hörspiel-, Roman- und Essayautorin Maxi Obexer ist Trägerin des Alice Salomon Poetik Preises 2023. In der Begründung der Jury der Hochschule heißt es:

"Obexers Texte (..) beugen sich keiner gefälligen Stilistik. Sie spiegeln vielmehr Obexers eigenwilliges Leiden an der Welt, ihre Wut, ihr Engagement wider. Sie ist auf der Suche. Als Künstlerin beherrscht sie ein breit gefächertes Spektrum an Ausdrucksweisen, die ihrerseits viele Spielräume der Interpretation offen lassen."

Ende 2023 hielt die Autorin die zu dem Preis gehörige Poetikvorlesung und im Januar 2024 fanden dann zwei aufeinander aufbauende und sehr inspirierende Workshops an der Hochschule statt. An diesen haben wir als Studierende des Masterstudiengangs "Biographisches und Kreatives Schreiben" teilgenommen und möchten davon berichten. Was haben wir mitgenommen? Was hat uns für unser Schreiben und für unser politisches Denken und Handeln inspiriert?

Maxi Obexer ist in Südtirol aufgewachsen und lebt heute in Berlin. Sie hat das Neue Institut für Dramatisches Schreiben gegründet und zahlreiche Theaterstücke geschrieben, zu den bekanntesten gehören "Das Geisterschiff" und "Illegale Helfer". Diese setzen sich wie auch der Roman "Europas längster Sommer" - nominiert für den Ingeborg-Bachmann-Preis 2017 - mit den Themen Flucht und Migration auseinander. Derzeit beschäftigt Maxi Obexer sich intensiv mit der tiefen und komplexen Beziehung von Mensch und Tier. Ihr neuer Roman "Unter Tieren" erscheint März 2024 im Verlag Weissbooks.

In der Poetikvorlesung und in beiden Workshops stand zunächst die "Suche" nach der angemessenen literarischen Form im Zentrum. Maxi Obexer nahm bereits in der Vorlesung positiv Bezug auf die Würdigung der "Vielfalt der literarischen Formen" in ihrem Werk durch die Jury der Hochschule.

Im Workshop arbeitete die Autorin mit uns heraus, warum es für sie so wichtig ist, sich nicht auf eine literarische Gattung festzulegen und sich immer wieder neu auf die Suche nach der dem Material angemessenen Form zu machen. So erzählte sie von den Recherchen für das "Geisterschiff" an der Südküste Siziliens. An Weihnachten 1996 ertranken dort 283 geflüchtete Menschen, ihr Schiff sank. Die italienische Regierung bestritt über Jahre das Unglück, die ansässigen Bewohner:innen trugen das Schweigen mit. Erst eine Recherche der italienischen Tagezeitung La Repubblica brachte fünf Jahre später mithilfe einer Unterwasserkamera den Beweis von der Existenz des Schiffes.

Nach den Gesprächen in dem Küstenort habe sie sich gefragt: "Was ist das Schmerzlichste, was ich vorgefunden habe?" Und was ist dafür die angemessene literarische Form? Maxi Obexer beobachtete ein theatralisches, geschwätziges Reden der Dorfbewohner:innen, welches um ihr jahrelanges staatlich verordnetes Schweigen kreiste. Dieser moralisch gebrochenen Geschwätzigkeit habe sie sich besonders über eine fiktionalisierte Form nähern können. Mit einem rein dokumentarischen Stück wäre sie weder dem Stoff gerecht geworden, noch hätte sie die Dorfbewohner:innen in der politisch aufgeheizten Stimmung angemessen porträtieren können.

Für Maxi Obexer ist die Suche nach der Form zentraler Bestandteil des Schreibprozesses. Die Form ist für sie - wie für alle politischen Autor:innen - nie neutral und muss immer wieder neu infrage gestellt werden. In der Vorlesung sagt sie, dies sei "eine Suche, die mitunter danach verlangt, mehreren Wegen zu folgen - den gedanklichen und philosophischen Ergründungen, wie im Essay. Oder - ganz anders: den atmosphärischen Verdichtungen beim Hörspiel, oder dem Ausdruck von Stimmen. Und nochmal ganz anders: den öffentlichen Dialog mit dem Publikum im Theater, mit Körpern hier wie dort. Manchmal bedingen die verschiedenen Formen einander, manchmal schaffen sie erst die Voraussetzung für einen Ausdruck der Wirklichkeit, der zu intervenieren vermag, zu irritieren, was die Normalität als gesetzt - oder gar als naturgegeben reklamiert."

In den beiden Workshops durften wir dieser Vielfalt der Formen gemeinsam nachgehen. In der Vorbereitung lasen wir Maxi Obexers mehrfach ausgezeichnetes und weltweit aufgeführtes Theaterstück und Hörspiel "Illegale Helfer". Das Stück zeichnet dokumentarisch die Perspektive von Menschen nach, die sich in Europa zu einem mitunter gesetzeswidrigem Handeln entscheiden und persönliche Risiken eingehen, um Menschen bei und nach einer Flucht zu helfen. Im Workshop führte Maxi Obexer aus, warum sie sich hier für ein dokumentarisches Theaterstück, basierend auf realen Interviews, entschieden habe. Der Konflikt liege hier - anders als beim Geisterschiff - in der Konfrontation mit einer als ungerecht und unmenschlich empfundenen Gesetzeslage. Es handele sich nicht um einen - dem Drama entsprechenden - inneren Konflikt der Protagonist:innen, "die Figuren werfen keine Schatten", wie Obexer es ausdrückte. Sie seien mit sich und ihrem Handeln im Reinen.

Wir setzten uns im Workshop auch mit zwei ganz verschiedenen Hörspielen auseinander: Mit der Doku "Im Auge des Sturms", die das Ohr auf die verbalen Auseinandersetzungen der Abgeordneten während des Sturms auf das Kapitol richtet. Auch hier entscheidet sich Maxi Obexer für eine dokumentarische Form, lässt die Reden dieser Nacht für sich stehen und wirken.

In dem Hörspiel "Mit Tieren gehen" erzählt sie dagegen in fiktionaler Form drei miteinander verflochtene Geschichten über die tiefen, lange gewachsenden Beziehungen von Menschen und Tieren. Diesem Thema näherte sich Obexer auch in anderer Form, in dem Essay: "Über Tiere schreiben - Über Tiere sprechen". Im Workshop sprachen wir lange über die Frage, wann und wie die oft zärtliche und tiefe Beziehung zwischen Menschen und Tieren in Gewalt umkippt. Welche Auswirkungen hat es, wenn Beziehung geleugnet und entwertet wird, wenn Tiere funktionalisiert und zu Objekten erklärt werden? Das Essay bringt als Form eine bewusste Auseinandersetzung mit Begriffen und darin enthaltenen Vorannahmen mit sich. Wie werden Machtasymmetrien versprachlicht? Wie werden Tiere ("Haustier") und Menschen ("Hausfrau", "Flüchtling") bereits durch diese Begriffe zu Objekten, über die verfügt werden und denen potentiell Gewalt angetan werden darf? 

Maxi Obexer machte deutlich, wie wichtig es ihr gewesen sei, "die Liebe, Zärtlichkeit, Zuneigung zu bezeugen", die zwischen Menschen und Tieren immer auch da sei - genauso wie den schmerzlichen Punkt, an dem diese oft abrupt - und lange vor dem Töten -  in Gewalt umschlage. Für das Schreiben über die Beziehung zu den Tieren hat Maxi Obexer verschiedene Formen gefunden: das Hörspiel, das Essay und nun den Roman.

Im Workshop wurde immer deutlicher, dass jede Form auch eine spezifische Auseinandersetzung mit dem lyrischen Ich sowie mit der Person der Autor:in mit sich bringe. "Je mehr es in Richtung Prosa geht, desto mehr musst du an dein eigenes Ich", sagte Maxi Obexer an einer Stelle. Und sie plädierte dafür, sich als die, die wir sind, in die eigenen Texte einzuschreiben. Im Essay und Hörspiel zum Mensch-Tier-Verhältnis ist dieses Ich tatsächlich ganz nah, es ist spürbar, wie tief es die Autorin in ihre eigene Kindheit in den Südtiroler Bergen führt. "Mit den Tieren sprach ich, während ich mit ihnen aufwuchs", schreibt sie zu Beginn ihres Essays.

Im zweiten Workshop hatten dann wir Teilnehmenden auch die Möglichkeit, eigene Schreibprojekte mitzubringen und zu diskutieren. So gingen wir anhand Mareikes Auseinandersetzung mit NS-Familiengeschichte gemeinsam auf die Suche nach der angemessenen Form und der Rolle des lyrischen Ichs. Die wichtigste Erkenntnis: Wir dürfen erst einmal von uns, von unserer Biographie, aus anfangen zu schreiben. Die endgültige Form muss noch nicht feststehen. Das Material findet dann mit der Zeit seine eigene, ihm entsprechende Form und kann - muss sich aber nicht - ins Fiktionale verlagern.

Gerade diese Arbeit an eigenen Schreibprojekten würden wir mit Maxi Obexer sehr gern fortsetzen und hoffen, dass sie noch oft an die Hochschule kommen wird, um ihre reiche Erfahrung als Autorin, Dozentin und politisch engagierter Mensch mit uns zu teilen.