Schon vor ihrer Vorlesung "Umsetzung der sozialrassistischen Ideologie in der fürsorgerischen Alltagspraxis am Beispiel der Berliner Pflegeämter auf dem Gebiet der Gefährdetenfürsorge" (am 22. Oktober 2025) konnten wir uns mit ASH-Professorin Dr. Esther Lehnert über das Thema unterhalten. Im Gespräch erklärt Lehnert, warum sich heutige Studierende mit der Geschichte der Profession auseinandersetzen sollten, wie im Nationalsozialismus systematisch diskriminiert wurde und auf wen der Fokus gelegt werden muss.
Esther Lehnerts Vorlesung ist Teil der Ringvorlesung "Soziale Arbeit und Nationalsozialismus - Erinnern. Reflektieren. Positionieren.", die vier Hochschulen, die Technische Hochschule Würzburg, die Hochschule Niederrhein Mönchengladbach, die Evangelische Hochschule Bochum und die ASH Berlin, gemeinsam im Wintersemester hybrid veranstalten. Neben bereits erwähnter Vorlesung am 22. Oktober 2025 findet auch der Abschluss, am 21. Januar 2026 (Thema "Lernen/Lehren aus der Geschichte?"/ Prof. Dr. em. Manfred Kappeler), an der Hochschule statt.
Frau Lehnert, warum ist es aus Ihrer Perspektive wichtig, dass Studierende der Sozialen Arbeit sich heute mit der Geschichte ihrer Profession im Nationalsozialismus auseinandersetzen?
Esther Lehnert: Ohne Kenntnis der Geschichte der eigenen Profession ist es nicht möglich ein professionelles Selbstverständnis zu entwickeln. Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession und Menschenrechte sind immer in jeweilige Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingelassen. Ohne die Reflektion der eigenen Professionsgeschichte und den dort zugrunde liegenden Traditionen kann der universalistische Kern Sozialer Arbeit nicht vollumfänglich erfasst werden.
Geben Sie bitte ein Beispiel…
Auch die Professionalisierung von Sozialer Arbeit ist durchzogen von autoritären und gewaltförmigen Traditionen. Diese hatten in der nationalsozialistischen Zeit einen traurigen Höhepunkt. Aber das damalige fachliche Handeln konnte an Traditionen aus der Weimarer Zeit anknüpfen. Bedauerlicherweise konnten auch nach dem Nationalsozialismus vielfältige autoritäre und gewaltförmige Praxen in einigen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit, wie z.B. der Heimerziehung, nur geringfügig modifiziert weitergeführt werden – und das in der BRD und in der DDR.
Worauf sollte ein Fokus gelegt werden?
Es ist außerordentlich wichtig endlich die davon Betroffenen, die damaligen Adressat_innen, in den Blick zu nehmen. Diese waren in der nationalsozialistischen Zeit von Diskriminierung, Verfolgung bis hin zur Vernichtung durch die Soziale Arbeit betroffen. Die Menschen wurden als „asozial“ abgestempelt, stigmatisiert und verfolgt. Psychische Krankheiten oder auch unerwünschtes Verhalten wurde unter einem „erb- und rassebiologischen“ Paradigma als „erbkrank“ kategorisiert. Diese Form von fachlichem Handeln hatte nicht nur Folgen für die davon Betroffenen, sondern auch für ihre Kinder und Enkelkinder. Ganze Familien – auch „Sippen“ genannt – waren von derartigen Stigmatisierungen betroffen.
Erst im Jahr 2020 hat der Deutsche Bundestag diese Verfolgtengruppe offiziell als vom NS Staat verfolgt, anerkannt.
Zum Thema der Vorlesung: Welche Formen der sozialrassistischen Ideologie sind in der alltäglichen Fürsorgepraxis der Berliner Pflegeämter während des Nationalsozialismus besonders deutlich geworden?
Deutlich wird das Ausmaß der systematischen Verfolgung von Frauen und Mädchen, die als „gefährdet“, „verwahrlost“, „minderwertig“ Oder „asozial“ von der Sozialen Arbeit, also von Pflegeämtern, Jugendämtern oder der Familienfürsorge, kategorisiert worden sind. Es ging in der Sozialen Arbeit im Nationalsozialismus darum, unerwünschtes Verhalten zu biologisieren bzw. dieses Verhalten in die Genetik der Betroffenen hinein zu konstruieren.
Wie stellte sich das dar?
Für Mädchen und Frauen bedeuteten Abweichungen bzw. unerwünschtes Verhalten immer „unmoralisches“ Verhalten. D.h. Mädchen und Frauen wurden in der damaligen Zeit von der Sozialen Arbeit (und gesellschaftlich) sexualisiert. In der nationalsozialistischen Zeit galt das unerwünschte Verhalten dieser Frauen und Mädchen als „moralisch schwachsinnig“, „triebhaft“ und/oder „verwahrlost“. Mögliche Ursachen wurden erbbiologisch hergeleitet – und galten damit als vererbbar.
Mit dieser Begründung wurden die Adressat_innen der Pflegeämter zwangssterilisiert und in Heime, Arbeitshäuser oder Lager eingesperrt. Bereits vorab war die Sexualität von Mädchen und Frauen die zentrale Richtschnur für eine Beurteilung besser gesagt für eine Verurteilung. Dabei war es egal, ob es sich um real gelebte oder unterstellte Sexualität oder auch sexualisierte Gewalt handelte.
Pflegeämter waren in der Zeit der Weimarer Republik als Institutionen der Wohlfahrt in Großstädten gegründet worden. Ein wichtiges Anliegen war die Entkriminalisierung von Prostitution und generell die Betreuung von als gefährdet angesehenen Frauen und Mädchen.
Die Be- bzw. Verurteilung von Mädchen und Frauen entlang von Sexualität hat in beiden Nachfolge Staaten also der BRD und der DDR eine zentrale Rolle gespielt und blieb ein wichtiges Motiv für eine Heimeinweisung.
In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich u.a. mit Ideologien der Ungleichwertigkeit. Welche Me-chanismen der „Gefährdetenfürsorge“ zeigen exemplarisch wie Soziale Arbeit zur Aufrechterhal-tung sozialrassistischer Ordnungssysteme beitrug?
Hier kann nicht von Mechanismen gesprochen werden. Die gesamte Arbeit der Pflegeämter war durch und durch menschenverachtend. Die fürsorgerischen Praxen waren durchzogen von dieser grundlegenden Menschenfeindlichkeit. Das Handeln der Fürsorgerinnen in den Pflegeämtern war bestimmt von einer tiefsitzenden Misogynie und einer Verachtung von armen Menschen sowie von Rassismus.
Die Fragen stellte Denis Demmerle.
Prof. Dr. Esther Lehnert ist an der ASH Berlin Professorin für Geschichte, Theorie und Praxis Sozialer Arbeit. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Rechtsextremismus und Gender, sozialpädagogische Strategien gegen Rechtsextremismus und Soziale Arbeit im Nationalsozialismus.
Termine an der ASH Berlin:
22.10.2025: Umsetzung der sozialrassistischen Ideologie in der fürsorgerischen Alltagspraxis am Beispiel der Berliner Pflegeämter auf dem Gebiet der Gefährdetenfürsorge - Prof.‘in Dr.‘in Esther Lehnert (Berlin)
19.11.2025: „Bewahrung" im NS-Staat - Kontinuitäten gesetzlicher Bestrebungen und Praxen fürsorgerischer "Bewahrung" (Weimar - NS - BRD) - Prof.‘in Dr.‘in Christa Paul (Hamburg)
21.01.2026: Lernen/Lehren aus der Geschichte? - Prof. Dr. em. Manfred Kappeler (Berlin)
... und hier alle (Online-)Termine der Ringvorlesung.