Lernen & Lehren Die Eingebundenheit des „ganzen Menschen“ ermöglichen

Die Debatte: Lehrformate nach Corona – für mehr Präsenzlehre

Gruppe Stuiderender im Hörsaal
Alexander Rentsch

Zur Ausgangslage

„Es gibt kein Zurück zu der Zeit vor Corona.“ Diese oder ähnliche Aussagen werden gerne ins Feld geführt, um implizit dafür zu argumentieren, dass die vielen Onlineformate, die notgedrungen während der Onlinesemester geschaffen wurden, nun nicht wieder einfach verschwinden können. 

Wenn wir uns im Folgenden als Initiative an der ASH Berlin vorstellen, die sich des Themenfelds Bildung in Präsenz angenommen hat, dann genau aus diesem Grund: Es stimmt, hinter die Erfahrungen von Corona kommen wir auch als Hochschule nicht zurück. Aber was aus dieser Feststellung folgt, ist (noch) ganz offen. Und es wäre einer Hochschuldebatte über ihre Bildungsformate unangemessen, sich hier einfach affirmativ-unkritisch zu verhalten. 

Wir sind der Meinung, dass die Bedeutung von Präsenz in der Lehre, gerade nach den Erfahrungen der pandemiebedingten Onlinelehre, nochmals ganz neu befragt werden muss. Zumal sich die Frage nach sinnvollen Formaten und notwendigen Bedingungen für Bildungsprozesse nicht nur angesichts der Erfahrungen mit den vielen schwarzen Kacheln in den Onlinesemestern aufdrängt: Schon lange haben wir an Hochschulen – durch immer größer werdende Seminargruppen, CP-Fokussierung, Mehrfachbelastungen von Studierenden, zunehmende Aufgaben von Lehrenden – Entwicklungen zu verzeichnen, die an der Verbindlichkeit, der Qualität und Kontinuität von Lehre nagen. Insofern lässt sich sagen, dass die notwendigen Bedingungen für eine qualitativ hochwertige (Präsenz-)Lehre schon lange vor Corona schleichend erodiert sind.

Worum es uns geht

Unsere Initiative versteht sich vor diesem Hintergrund als ein reflexiver Diskursraum zur Frage guter Lehre und sinnvollen Lernens an unserer Hochschule. Sie ist aus der Sorge um die Qualität der Lehre in unseren Studiengängen entstanden, aber auch generell aus der Sorge um unsere Hochschule, ihren Charakter und ihr inneres Leben, die durch die Folgen von Corona noch einmal dringlicher geworden ist.

Wir sehen eine bildungstheoretische, pädagogische und ausbildungsbezogene Notwendigkeit, uns mit dem spezifischen Bildungspotenzial von Lehre und Bildung in Präsenz auseinanderzusetzen. Zentral wird dabei sein, nach den Bedingungen zu fragen, auf die Lehre und Bildung in Präsenz angewiesen sind. So sind wir nach vielen Diskussionen zutiefst überzeugt davon, dass gelingende Präsenzlehre sehr viel mehr bedeutet, als dass sich eine Gruppe von Lehrenden und Lernenden – physisch – zur selben Zeit im selben Raum einfindet.

Die Grundideen

Wir sehen in Lehre und Bildung in Präsenz einen geschützten und geteilten Raum, in dem sich eine gemeinsam getragene Diskussionskultur auf besondere Weise entwickeln kann. Erst hier ist ein Lehren und Lernen möglich, das nicht nur Fachwissen und Fachkompetenzen vermittelt, sondern gleichzeitig auch Persönlichkeitsbildung ist. Denn Präsenz bedeutet und ermöglicht leibliche Unmittelbarkeit, mit all den damit einhergehenden Erfahrungsmöglichkeiten. Die Eingebundenheit des „ganzen Menschen“ in Lehre und Bildung in Präsenz – durch seine vielfältigen, atmosphärischen, umfassenden, interaktiven, emotionalen, intuitiven und körpersprachlichen Qualitäten – bringen entsprechend komplexe und nachhaltige Erfahrungen mit sich; sowohl in intellektueller als auch in ethischer und ästhetischer Hinsicht. Diese schließen zwischenmenschliche Erfahrungen von Fremdheit und Vertrautheit, Verbundenheit, Kontrast und Differenz mit ein, die ja gerade auch für die Studiengänge der ASH Berlin und ihr Leitbild besonders relevant sind. Damit diese jedoch ihr herausforderndes Bildungspotenzial entfalten können, braucht es die zugleich individuelle wie geteilte Bereitschaft, sich vor Ort in Präsenz auf dieses lebendige und vielfältige Miteinander einzulassen. So geht es ja gerade in einer Hochschule wie der ASH Berlin – entsprechend ihrem Leitbild – darum, auf Augenhöhe miteinander zu sprechen und auch streiten zu können: Hierfür muss man sich direkt in die Augen schauen können, und zwar in möglichst ungeteilter Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt ermöglicht die Präsenzlehre auch viele informelle Austauschprozesse, um die Lehrveranstaltungen und ihre Inhalte herum, die häufig zu weiteren wesentlichen Erfahrungen und Erkenntnissen führen.

Konkrete Folgerungen für die Lehre und die Hochschule

Die spezifische Gegenwärtigkeit in der gemeinsam-präsentischen Lernsituation besitzt insofern unersetzbare, vielfältige Erfahrungsdimensionen, die weder digital noch durch schriftliche Teilnahmeleistungen kompensiert werden können. Deshalb sehen wir in der Lehre und Bildung in Präsenz in keinster Weise eine „überholte“ Arbeits- und Lernform von und in Hochschulen. Vielmehr geht es jetzt darum, dieses Format – vor dem Hintergrund der schon länger währenden erodierenden Entwicklung und in der Zuspitzung durch die Erfahrungen der Onlinesemester – nochmals neu zu befragen, zu begründen und dann als Ergebnis auf einen neuen, ihm dienenden Grund zu stellen. 

Ein gemeinsamer Diskurs über diese zentrale Frage und Aufgabe von Hochschule, zum Beispiel auch im Kontext des neuen Leitbildes „Lernen und Lehren“ der ASH Berlin, könnte darüber hinaus ein entscheidender Impuls für die Wiederbelebung und Vertiefung einer gemeinsam gestalteten Hochschulöffentlichkeit sein, die sich derzeit viele sehr zu Recht wünschen. Durch diesen gemeinsamen Diskurs könnte dann im besten Falle an Stelle einer schon länger bestehenden und durch Corona wohl nur verschärften „Kultur der Unverbindlichkeit“, eine neu gefundene und definierte Lehr- und Lernkultur der Verbindlichkeit treten. An dieser Stelle sind folglich u.a. auch Belegsysteme oder Prüfungsordnungen, die bereits im Wortlaut bzw. in der Praxis jegliche Anwesenheitspflicht verneinen oder durch Doppelbelegungen konterkarieren, zu befragen. Ein nochmals neu durchdrungenes Bekenntnis zu Lehre in Präsenz bräuchte insofern eine Revision vieler Regelungen oder gewachsener Praktiken und Überzeugungen aufgrund von bildungstheoretischen Reflexionen.

Wenn wir die entstandenen Onlineformate, nur weil sie neu sind, als  „progressiv“ deklarieren und mitunter auch als vermeintlichen Ausweg aus einigen strukturellen Problemen wie Zeitersparnis, Raumnot, zu große Seminargruppen etc. betrachten (die allerdings schon einige Zeit vor Corona bestanden haben), dann unterstützen wir (ungewollt) eine Kultur, die im Zeitgeist ökonomistischen Effizienzdenkens ein gemeinsames gutes Lehren und Lernen unterläuft. Insofern sollten und wollen wir kritisch hinschauen und uns jetzt die Zeit für gründliche Reflexionen und gemeinsamen Diskurs nehmen.

Zu einer ausführlicheren Darstellung der hier vorgestellten Position, möchten wir auf unsere „17 Thesen zur Präsenzlehre“ verweisen, die das vorläufige Ergebnis unserer Initiative darstellen. Diese Thesen sind im Open Access publiziert und hier zu finden: https://opus4.kobv.de/opus4-ash/frontdoor/index/index/docId/506