BU: „Im Mittel gibt es keine substanziellen Unterschiede zwischen Präsenzlehre und Online-Lehre beim Kompetenzerwerb.“
Student_innen, die vereinsamt Online-Lehre konsumieren. Lehrkräfte, die bis nachts arbeiten, um notdürftige Lehrformate aufzusetzen. Verwaltungsmitarbeiter_innen, die von Anfragen verunsicherter Student_innen überschwemmt werden. Ein gereizter Umgangston in virtuellen Sitzungen als Symptom einer Durststrecke im sozialen Miteinander der Hochschule. Kann man Corona vielleicht als Angriff auf die Hochschule selbst interpretieren? So wird die Pandemie oft dargestellt.
Zurück in die gute alte Zeit?
Nun sei der digitale Spuk überstanden, jetzt können sich die Hochschulmitglieder, die sich alle so lange nach Präsenz gesehnt haben, wieder mit allen Sinnen begegnen. Und vor allem: Endlich lernen Student_innen wieder was, nachdem sie durch Online-Lehre nur eingeschränkt Kompetenzen aufbauen konnten.
Wissenschaftliche Fakten im Kontext von Lehrformaten
Manchmal kann es hilfreich sein, Dinge zu vereinfachen, um mit schwierigen Erlebnissen zurechtzukommen. Vielleicht trifft das gerade auf die Pandemie zu. Gleichwohl ist es Aufgabe von Wissenschaftler_innen, nicht nur in der Forschung, sondern auch im politischen Diskurs auf den irreführenden Charakter von vereinfachenden Narrativen wie dem in der Einleitung hinzuweisen. Die pandemischen Verwirrungen berücksichtigend wollen wir dies im Folgenden tun und unsere Argumente auf wissenschaftlichen Fakten aufbauen.
Fakt 1: Keine „Online-Semester“ während der Pandemie
Während der Pandemie fanden an den Hochschulen keineswegs durch Online-Lehre gekennzeichnete „Online-Semester“ statt. Vielmehr dominierte, insbesondere zu Beginn, eine Form, die die Bildungswissenschaften als „Emergency Remote Teaching“ (ERT) bezeichnen. Diese improvisierte Distanzlehre ohne soziale Interaktion ist aber kein professionelles Lehrformat im eigentlichen Sinne. „Notsemester“ wäre eine passendere Bezeichnung. Von „Online-Semestern“ zu sprechen ist jedenfalls irreführend. Dasselbe gilt für „Präsenzsemester“ usw., da manche Präsenzstudiengänge in Deutschland bereits vor der Pandemie Online-Lehre umsetzten und dies weiterhin tun.
Fakt 2: Präsenzlehre ist kein überlegenes Lehrformat
Ein Hauptargument, um Lehre wieder in eine imaginäre gute alte Zeit vor Corona zurückzubringen, ist die vermeintliche Überlegenheit der Präsenzlehre im Vergleich zu anderen Formaten – wie der Online-Lehre. Die Lernrückstände vieler Student_innen nach der Pandemie dienen als scheinbarer Beweis. Dahinter steckt jedoch ein irreführender Vergleich von Präsenzlehre mit ERT. Der relevante Vergleich, nämlich der zwischen professioneller Präsenz- und Online-Lehre, wurde in einer Reihe von Untersuchungen durchgeführt. Gesamtfazit dieser Vielzahl an internationalen Studien, die von einem Forscher_innenteam des Stanford Research Institute (SRI) unter Leitung von Dr. Barbara Means gemeinsam statistisch ausgewertet wurden: Im Mittel gibt es keine substanziellen Unterschiede zwischen Präsenzlehre und Online-Lehre beim Kompetenzerwerb. Zwar kann es Fachgebiete oder Lehrkräfte geben, für die das nicht zutrifft – diese Möglichkeit schließt das statistische Konzept der Mittelwertdifferenz mit ein. Im Sinne wissenschaftlicher Vielfalt, die sich auch in der Lehre manifestiert, ist diese Möglichkeit positiv zu sehen. Präsenzlehre als überlegen zu sehen ist gleichwohl falsch; sie als didaktischen Standard zu setzen daher nicht zielführend. Zudem lenkt die Dauerdiskussion um Lehrformate von einem weiteren zentralen Ergebnis dieser Analysen ab, nämlich dass die Lehrkraft viel entscheidender für den Kompetenzerwerb ist als das Lehrformat. Daher ist es sinnvoller, auf gute Lehrkräfte statt vermeintlich bessere Lehrformate zu setzen. Eine gute Lehrkraft wird die richtige Entscheidung über das passende Lehrformat treffen. Zwar können Rahmenbedingungen gewisse Begrenzungen des Entscheidungsspielraums der Lehrkräfte bei Lehrformaten erfordern. Es ist klar, dass Student_innen z. B. nach einem Block-Präsenztag keine zusätzliche synchrone Online-Live-Vorlesung im Anschluss zugemutet werden kann. Doch auch ein solches Setting rechtfertigt keine komplette top-down-Vorgabe der Lehrformate. Im Übrigen würde in diesem Beispiel eine gute Lehrkraft das synchrone Online-Format gar nicht in Erwägung ziehen.
Fakt 3: Online- und Präsenzlehre sind kombinierbar
Online- und Präsenzlehre sind auf allen Ebenen kombinierbar. Auf der Hochschulebene können sowohl Präsenzstudiengänge als auch Online-Studiengänge unter dem Dach einer einzigen Hochschule angesiedelt sein. Dasselbe gilt innerhalb von Studiengängen: Bereits vor Corona gab es Online-Studiengänge, in denen auch Präsenzveranstaltungen abgehalten wurden. Umgekehrt haben auch einige Präsenzstudiengänge Online-Lehre neben klassischen Präsenzveranstaltungen durchgeführt. Last but not least können Online- und Präsenzlehre auch innerhalb ein- und derselben Veranstaltung angewendet werden (Blended Learning). Auch für Blended Learning zeigte eine gemeinsame statistische Auswertung Dutzender internationaler Studien durch Dr. Silas Wandera an der Wilmington University, dass dieses Format keinen schlechteren Kompetenzerwerb bewirkt als klassische Präsenzlehre. Sowohl auf Hochschulebene als auch auf Studiengangs- und Lehrveranstaltungsebene gibt es viele Beispiele für Kombinationen der Lehrformate. Es stimmt nicht, dass Online- und Präsenzlehre sich ausschließen. Die Beibehaltung von Präsenzlehre ist daher auch kein Argument für die Begrenzung von Online-Formaten.
Resümee und Blick in die Zukunft
Was ist nun die richtige Antwort auf den pandemischen Digitalisierungsschub, um Hochschullehre zukunftsfähig zu machen? Eine Retraditionalisierung der Präsenzstudiengänge ist jedenfalls die falsche Antwort. Eine Rolle rückwärts bei den Lehrformaten ist wohl ohnehin zum Scheitern verurteilt, denn der digitale Geist ist aus der Flasche. Die Hochschullehre wird nach der Pandemie absehbar etwas digitaler sein als davor, so wie alle Bereiche der Gesellschaft eben auch. Solange gute Lehrkräfte unterrichten, kann man gelassen auf diese Entwicklung blicken. Gute Lehrkräfte machen gute Lehre – unabhängig vom Lehrformat.
Die Füße hochzulegen wäre jedoch falsch: Hochschullehre wird nur zukunftsfähig gestaltet, wenn die Betroffenen gehört und ihre Anliegen politisch umgesetzt werden. Das gilt gerade im pandemiebedingten Umbruch, von dem nicht nur die Lehrkräfte, sondern alle Mitarbeiter_innen der Hochschulen und insbes. Student_innen betroffen sind. So fordert die LandesAstenKonferenz Berlin einen Ausbau insbesondere der asynchronen, zeitflexiblen Online-Formate. Der Hochschullehrerbund wiederum fordert, dass digitale Lehre, egal ob synchron oder asynchron, rechtlich gleichgestellt werden muss mit Präsenzlehre. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft bringt es auf den Punkt: „Durch tragfähige Konzepte und Rahmenbedingungen für ein Zusammenwirken von Präsenz- und Onlinelehre sowie eine leistungsfähige Hochschuldidaktik ist die Hochschullehre fit fürs Studium 4.0. zu machen“. Dem ist nichts hinzuzufügen.