Im primärqualifizierenden Studiengang Physiotherapie und Ergotherapie fand im Wintersemester 2020/21 das Wahlmodul „Bewältigung chronischer Schmerzen“ unter der Leitung von Prof. Dr. Barbara Vogel statt. Um unterschiedliche Perspektiven auf den Umgang mit chronischen Schmerzen zu erhalten, interviewten Studierende im Rahmen des Moduls verschiedene Expert_innen1. Dieser Artikel reflektiert wertvolle Einblicke und Informationen, die durch ein Interview mit Frau S., einer Physiotherapeutin aus der multimodalen Schmerztherapie, gewonnen wurden.
Frau S. war nach ihrer abgeschlossenen Ausbildung zur Physiotherapeutin zunächst im orthopädischen und neurologischen Bereich tätig und therapierte anschließend in einer Praxis viele Patient_innen mit Rückenschmerzen. Schon damals interessiert sich Frau S. für die psychosomatischen Zusammenhänge und entschied sich für eine Weiterbildung in der Bewegungsanalyse nach C. Rick (modifizierte Tanztherapie). Mit dieser Ausbildung steigt sie in den Zusammenhang von Psyche und Körper ein und sie erkennt den Vorteil einer multimodalen Arbeit. Im Jahr 2001 begann sie dann ihre Arbeit im interdisziplinären Team der multimodalen Schmerztherapie.
Multimodale Therapie
In der multimodalen Schmerztherapie werden Menschen therapiert, die unter chronischen Schmerzen leiden. Häufig kommen dazu noch Depressionen, die den Antrieb der Betroffenen mindern. In dem Schmerzzentrum, in dem Frau S. fünf Jahre lang arbeitete, werden die Patient_innen multimodal therapiert. Doch wer ist Teil dieses multimodalen Teams? Zum interdisziplinären Team gehören Ärzt_innen unterschiedlicher Fachrichtungen und Psycholog_innen, Bewegungstherapeut_innen sowie Pflegekräfte. Die Bewegungstherapie schließt nicht nur die Physiotherapie, sondern auch die Ergo-, Sport- und Kunsttherapie mit ein. Frau S. betont, dass es in dieser multimodalen Therapie wichtig ist, dass alle Berufsgruppen an einem Strang ziehen. Das würden auch die Patient_innen merken und als positiv werten. Die Patient_innen sind anfangs durch die Menge an Informationen überfordert, viele von ihnen sind dazu noch verängstigt oder irritiert, weil sie in der Vergangenheit von verschiedenen Berufsgruppen unterschiedliche Informationen erhalten haben. Nach der Erfahrung von Frau S. schöpfen Patient_innen wieder Hoffnung, wenn sie merken, dass sich die unterschiedlichen Berufsgruppen untereinander austauschen und alle dem gleichen Ansatz nachgehen, dem bio-psycho-sozialen Gesundheitsmodell.
Die Mitglieder des multimodalen Teams können sich untereinander Sicherheit geben. Niemand muss die Patient_innen alleine auffangen, jeder kann im eigenen Fachbereich positiv auf die Patient_innen einwirken.
„…, den Schmerz wegzaubern, das passiert nicht.“ sagt Frau S., aber darum gehe es in der multimodalen Schmerztherapie auch nicht. Das Ziel der multimodalen Schmerztherapie ist es nicht, den Schmerz verschwinden zu lassen. Es wird vielmehr eine Linderung angestrebt und damit verbunden die Erhöhung der Lebensqualität der Betroffenen. „Es geht um den Umgang mit dem Schmerz“, so Frau S., „das ist eigentlich die Zielsetzung schlechthin.“ Die Therapie von chronischen Schmerzpatient_innen ist nicht strukturorientiert, sondern verhaltensorientiert. Dafür ist es notwendig, dass die Patient_innen die Schmerzphysiologie verstehen. Das Besondere an der physiotherapeutischen Arbeit mit chronischen Schmerzpatient_innen sind, laut Frau S., die Edukationsstunden für die Patient_innen. Diese werden mit den praktischen Stunden vereint. „…, diese Verbindung ist das, was funktioniert.“, so Frau S.. Eine große Rolle spielt dabei das Wissen aus der Psychologie, das im Behandlungsprozess mit der Bewegung verbunden werden kann.
Edukation – Kommunikation – Motivation - Reflexion
„Das Wichtige ist, dass man anfängt, das Erlebte ins Bewusstsein zu holen“, sagt Frau S. und macht dadurch die Relevanz der Kommunikation im therapeutischen Prozess und die Verbindung der Bewegung mit Reflexionsgesprächen deutlich. Ein wichtiger Faktor in der Therapie mit chronischen Schmerzpatient_innen ist die Motivation. Diese ist häufig aufgrund von negativen Erfahrungen mit vorherigen Behandlungen reduziert. Laut Frau S. ist es für die Patient_innen wichtig, zu erkennen, dass es viele Gründe geben kann, warum es so schwer ist, ihr Verhalten zu verändern. Besonders das Wissen und die Unterstützung von den Psycholog_innen helfen, das zu verstehen und daran arbeiten zu können. Das Steigern der Motivation der Betroffenen war aber auch bei Frau S. andauernd Teil der physiotherapeutischen Behandlung. Alle beteiligten Berufsgruppen führen Motivations- als auch Reflexionsgespräche durch.
Chronischer Schmerz als eigenständige Krankheit
Für die betroffenen Patient_innen sowie für Therapeut_innen ist es gleichermaßen wichtig, den chronischen Schmerz anzuerkennen und ihn als eigenständige Krankheit zu verstehen. Wichtig ist auch, dass die Therapeut_innen ohne Erwartungen an die Patient_innen herantreten. Therapeut_innen müssen bereit sein, gemeinsam mit den Patient_innen und ihrem individuellen Schmerzverhalten einen Umgang zu finden, sie zu unterstützen und die nötige Hilfe anzubieten. Die Patient_innen finden letztendlich einen eigenen, individuellen Weg.
Was kann helfen, aus dem Teufelskreis Schmerz herauszukommen?
Frau S. betont die Relevanz der Selbstwirksamkeit. Diese kann nicht nur durch das Verstehen der Krankheit gefördert werden. Bewegungstherapien, die vor allem die Körperwahrnehmung fördern, helfen durch die Verbindung von Körper und Psyche, Selbstwirksamkeit zu erfahren. Ein weiterer wichtiger Faktor in der multimodalen Behandlung ist die Zeit. Diese fehlt inzwischen häufig, da es leider vermehrt eine Tendenz gibt, das Multimodale Therapiekonzept zu kürzen. Die kürzere Verweildauer der Patient_innen macht sich so im therapeutischen Kontext negativ bemerkbar. Um so wichtiger ist es, dass sich Patient_innen selber als Expert_innen ihrer Beschwerden sehen, um mit diesen aktiv umgehen zu können. Andernfalls würde es zu einer gewissen Passivität kommen, die für eine Bewältigung der chronischen Schmerzen nicht hilfreich ist. Frau S. empfiehlt Patient_innen mit chronischen Schmerzen daher, sich eine Unterstützung durch eine Anbindung im ärztlichen, psychologischen sowie bewegungstherapeutischen Sinne zu suchen. Außerdem gründen viele Patient_innen Selbsthilfegruppen, tauschen dort Erfahrungen aus und unterstützen sich dann gegenseitig. Frau S. findet diesen Austausch in Gruppen für die Patient_innen sehr wichtig und empfiehlt Menschen mit chronischen Schmerzen diese Angebote anzunehmen.
Interprofessionelle Zusammenarbeit als Schlüsselfaktor in der Therapie
Frau S. betont während des Interviews immer wieder, wie wichtig ein multimodales Konzept ist und dass es grundsätzlich ein interdisziplinäres Arbeiten geben sollte, nicht nur in der Therapie von Patient_innen mit chronischen Schmerzen.
Einen Umgang mit dem chronischen Schmerz zu finden ist ein langer, schwieriger und für jede betroffene Person individueller Weg. Ein multimodales, interdisziplinäres Programm bietet den Patient_innen dabei eine vielseitige Unterstützung, die sie benötigen, um den chronischen Schmerz bewältigen zu können.