Serie: Chronische Schmerzen Das Schmerzgedächtnis ist ein mieser Verräter

Schmerzerleben und Schmerzbewältigung – ein Artikel von Studierenden aus dem Wahlmodul „Bewältigung chronischer Schmerzen”

Porträt
Nina Luckow, Erfahrungsexpertin für Schmerzen

Chronische Schmerzen sind weit verbreitet und ein gesundheitliches Problem unserer Zeit. Die Behandlung chronischer Schmerzen stellt daher eine zunehmende Herausforderung für unser Gesundheitssystem dar. Für Erkrankte steht es außer Frage, dass chronische Schmerzen die Lebensqualität verringern, doch wie genau äußert sich dies und welche Perspektiven gibt es im Umgang mit chronischen Schmerzen? Diese Fragen behandelt dieser Artikel aus Sicht einer Betroffenen: Nina Luckow (40 Jahre) ist Erfahrungsexpertin für das Thema chronische Schmerzen. In einem Interview erzählte sie uns, Studierenden des primärqualifizierenden Studiengangs Physiotherapie/ Ergotherapie im Rahmen des Wahlmoduls “Bewältigung chronischer Schmerzen”, über ihr Erleben und Leben in diesem Kontext, sowie über Bewältigungsstrategien und was Schmerzen für sie bedeuten.

„Mir ist klar, das Schmerzgedächtnis ist da ein mieser Verräter, [...] der sagt, dass Schmerzen da sind, auch wenn man keine hat“

Ob Joggen, Schwimmen, Turnen oder Tischtennis: Nina Luckow hat immer ein sehr aktives und „massiv sportlastiges Leben” geführt. Dabei war sie sehr leistungsorientiert und „wollte immer die Beste sein”. Dementsprechend, so erklärt Frau Luckow., habe sie „ihren Körper nicht immer sehr achtsam behandelt und dadurch haben sich auch [ihre] körperlichen Schwierigkeiten eingestellt”. In ihren 20ern wurde sie aufgrund einer immerzu luxierenden Kniescheibe operiert. Während des Heilungsprozesses entzündete sich das OP-Gebiet jedoch und Frau Luckow erlebte mehrere Not-OPs in Ungewissheit, ob ihr Bein amputiert werden müsste. Dies war psychisch schwer zu verkraften. Schließlich bekam sie eine Totalendoprothese für das Knie, welche sich ebenfalls entzündete und dadurch Schmerzen verursachte, anstatt sie zu lindern. Während dieser Zeit wurde Frau L. mit starken Schmerzmitteln versorgt, welche aber nur begrenzt Linderung verschafften. „Mir ist klar, das Schmerzgedächtnis ist da ein mieser Verräter, [...] der sagt, dass Schmerzen da sind, auch wenn man keine hat.” Es stellte sich heraus, dass sie am sogenannten Schmerzverstärkungssyndrom leidet, bei dem die Schmerzschwelle absinkt und bereits kleine Schmerzreize starke Schmerzen auslösen. Nina Luckow nahm 4 Jahre lang Morphium, „um überhaupt den Alltag zu bewältigen“. Dann entschied sie sich, das Morphium sukzessiv abzusetzen, was im Berliner Klinikum Havelhöhe gut funktionierte. In Zusammenarbeit mit ihrer Schmerztherapeutin suchte sie nach Alternativen und bekam schließlich medizinisches Cannabis sowie Gabapentin gegen die Schmerzen. Nina Luckow ist sehr froh, mit nur diesen beiden Medikamenten zurecht zu kommen. Ihr Ziel ist es, langfristig nur noch ein Medikament einzunehmen und sie hofft, „dass [ihr] Alltag irgendwann nicht mehr zu 80 Prozent vom Schmerz bestimmt wird.”

„Morgens nach dem Aufstehen laufe ich wie eine alte Oma“

Inwiefern die chronischen Schmerzen die Lebensqualität im Alltag von Frau Luckow beeinflussen, beschreibt sie wie folgt: „Morgens nach dem Aufstehen laufe ich wie eine alte Oma. Nach den ersten Tabletten ist der Alltag erträglicher.“ Bei Aktivitäten ist ein vorheriges Einnehmen von Tabletten obligatorisch. „Ich kann nicht mit meinen Nichten herumtoben und auf dem Boden sitzen. Meine Mutter kann sogar auf dem Boden sitzen. […] Fahrradfahren geht auch nicht mehr, [das Knie] schwillt sonst an. […] Beim Gehen bin ich auf den Gehstock angewiesen.“

„Alle Aktivitäten versuche ich trotzdem zu machen, als Ablenkung. Ich möchte meinen Alltag bestimmen, nicht das Knie. Da gehe ich oft über meine Grenzen. Zum Beispiel, wenn ich mit meinen Nichten auf dem Spielplatz war, dann ist die nächsten Tage wieder Gehstütze und viel auf der Couch liegen, angesagt. Das soll mir aber mein Leben nicht versauen.“

Nina Luckow hat, wie die meisten Betroffenen, eine Reihe von Behandlungsversuchen hinter sich. Um den Alltag bewältigen zu können, helfen ihr neben der Medikamente, Neuraltherapie und Akupunktur auch Hausmittel wie beispielsweise Quarkwickel. Außerdem arbeitet sie viel mit Schmerzöl anstelle von Voltaren. „Das nimmt zwar nicht den Schmerz, macht ihn aber erträglicher.

“Physio- und Ergotherapie: „Es tut besonders gut, dass sie als Mensch gesehen wird und nicht als Diagnose Schmerzsyndrom. Das Allerwichtigste in der Ergotherapie ist für mich, dass ich authentisch sein darf mit all meinen Emotionen.“

Nina Luckow betont weiterhin, dass die regelmäßige Physiotherapie und Schmerztherapie viel Raum im Alltag einnehmen. Sie musste lange suchen, um eine passende Physiotherapeutin zu finden, mit der sie gut zusammenarbeiten konnte. „Es kann gut sein, dass man irgendwann an einen Punkt kommt, wo man [in der Therapie] nicht weiterkommt, einen neuen Blickwinkel braucht und die Therapeutin wechselt.“ Sehr wertvoll ist für Nina Luckow auch die Ergotherapie. Dort tut ihr besonders gut, dass sie als Mensch gesehen wird und nicht als Diagnose Schmerzsyndrom. „Es ist meine Zeit, wenn ich zu ihr [der Therapeutin] komme. Wir gucken gemeinsam was ich brauche, und das ist, wie ich finde, das Wichtige. Zu wissen, es ist meine qualitative Zeit. […] Das ist für mich auch Selbstwirksamkeit, wenn ich dort hingehe und ich weiß, dass ich dort etwas für mich tun kann. Dann nehme ich das [Gefühl] auch mit nach Hause.“ Frau Luckow ist es wichtig, bei ihrer Therapeutin Erwartungen und Hoffnungen anzusprechen, um den größtmöglichen Nutzen daraus zu ziehen. „Das Allerwichtigste in der Ergotherapie ist für mich, dass ich authentisch sein darf mit all meinen Emotionen […] und einen Raum habe, wo ich sagen darf, was ich heute brauche. Und wenn ich mal nicht weiß, was ich brauche, dass dann einfach Ideen [von der Therapeutin] kommen.“

„Man kann etwas bewirken, indem man etwas anderes macht“

„Außerdem ist es mir wichtig, dass der Fokus nicht immer nur auf dem Schmerz liegt. Gerade bei chronischen Schmerzen ist klar, dass man daran primär nicht viel ändern kann, aber man kann etwas bewirken, indem man etwas anderes macht.“ Nina Luckow weiß sich glücklich zu schätzen, dass ihre Therapeutin ein Auge dafür hat, ob sie an diesem Tag Ablenkung braucht oder ob die Konzentration auf den Schmerz hilft. „Ich glaube das ist eine große Kunst, die man [als Therapeut_in] lernen kann, durch viel Kontakt mit unterschiedlichen Patienten.“

„Kommunikation zwischen Ärzt_in und Patient_in und Empathie sind wichtig“

Frau Luckow hat auch mit Ärzt_innen Erfahrungen gesammelt und sagt stets, was sie von ihrem/ihrer Ärzt_in erwartet. Die richtige Kommunikation zwischen Ärzt_in und Patient_in ist für Frau Luckow von immenser Bedeutung. So sagt sie „Wenn man überlegt, was die Ärzte für eine wichtige Funktion haben: sie müssen aufklären, sie müssen aber in meinen Augen auch empathisch sein. Also sich in den Patienten mit seinen Sorgen und Nöten, mit den Schmerzen oder mit der anstehenden OP hineinfühlen. Der Arzt muss leisten, dass der Patient sich danach gehört, gesehen und auch mitgenommen fühlt.“

Selbsthilfe: „ganz viel rausziehen aus dem, was andere sagen, wenn es um praktische, emotionale oder organisatorische Angelegenheiten geht“

Wenn es darum ging, einen guten Arzt zu finden oder ein gutes Arztgespräch zu führen, hat Nina Luckow viel Unterstützung und Rat in ihrer Selbsthilfegruppe gefunden. „Wenn man da einfach jemanden hat, der sagt, 'du ich hab das damals so und so mit dem Arzt besprechen können'. […] Das ist, was für mich Selbsthilfe bedeutet und das ist ganz viel wert. […] Selbsthilfe bedeutet für mich nicht, ich geh' einmal in der Woche zu der Gruppe und erzähle, wie schlecht es mir geht. Sondern für mich ist es ganz viel rausziehen aus dem, was andere sagen, auch wenn es nicht direkt etwas mit mir zu tun hat.“ Sie sagt „Ich hätte mir von der Klinik mehr und auch früher die Beratung und Aufklärung gewünscht zu Selbsthilfegruppen, Verbänden und Unterstützungsmöglichkeiten. […] Mir hätte es vielleicht auch geholfen, wenn ich damals schon gewusst hätte, dass ich mich an jemanden wenden kann und [...] diese Angebote hätte nutzen können. Dann wäre vielleicht auch dieses Schmerzverstärkersyndrom gar nicht aufgetreten. […] [Heutzutage] kann ich mit den Schmerzen anders umgehen. Ich glaube, Selbsthilfegruppen sind einfach eine Stütze, weil man das Gefühl hat, nicht allein zu sein.“ Weiterhin bekommt Frau Luckow durch die Selbsthilfegruppe Hilfe zur Selbsthilfe, wenn es um praktische, emotionale oder organisatorische Angelegenheiten geht: „Ich kann fragen wie macht ihr das? Was macht ihr, wenn es euch schmerzlich echt schlecht geht? Wie könnt ihr euch auch wieder aufbauen, vor allem auf emotionaler Ebene? Weil es ja viel mit der Psyche macht. […] Einfach diesen Austausch zu haben […] und dass man eine andere Wissensvermittlung kriegt. Was ist möglich? Was kann ich beantragen? Was kann ich für Behandlungen bekommen? Wie ist es mit dem Schwerbehindertenausweis? […] Also dieses ganze Drumherum, das es gibt, wenn man lange mit Schmerzen und Bewegungseinschränkungen zu tun hat.“ Mittlerweile ist Nina Luckow „immer wieder im Kontakt mit der Rheumaliga.“ Sie moderiert oftmals Selbsthilfegruppen und erfüllt ihre Aufgaben gerne. „Mir tut die Selbsthilfegruppenarbeit unheimlich gut und gibt mir ganz viel Wertschätzung und Selbstwertgefühl. Von daher werde ich wohl mit der Selbsthilfe erst aufhören, wenn [...] ich nicht mehr die Möglichkeit dazu habe, diese bewusst wahrzunehmen." Nina Luckow hat sich sowohl physisch als auch psychisch mit ihren Schmerzen auseinandergesetzt. Mit der Zeit hat sie einige Bewältigungsstrategien entwickelt, die über Medikamente und Therapie hinausgehen. Neue Perspektiven helfen ihr im Umgang mit ihren chronischen Schmerzen und erleichtern ihr das alltägliche Leben.

 

Weitere Informationen:
Der Artikel ist Teil einer Serie aus dem Modul „Bewältigung chronischer Schmerzen“ im primärqualifizierenden Studiengang „Physiotherapie/Ergotherapie“.