Lernen & Lehren Abbau von digitalen Barrieren

Ein Interview über die Herausforderungen von Studierenden mit Behinderung oder / und einer chronischen Erkrankung im Online-Semester

Eine Frau am Schreibtisch vor einem Bildschirm im Rollstuhl
Andi Weiland / Gesellschaftsbilder

Wie ist aktuell die Lage für Studierende mit Behinderung oder / und einer chronischen Erkrankung?

Stoffers: Insgesamt kann man ganz klar sagen, dass die psychische Belastung durch die aktuelle Situation sich auf fast alle auswirkt. Doch Personen mit bereits bestehenden psychischen Erkrankungen sind davon besonders betroffen, da diese sich durch die belastende Lage noch verschärfen können und auch Ressourcen, mit deren Hilfe diese Probleme sonst bearbeitet werden könnten, im Moment schwerer zugänglich sind.

Für Personengruppen, für die digitale Lehrangebote Barrieren hat, ist der Zugang zur Lehre natürlich sehr viel schwieriger geworden, seit es keine Präsenzlehre mehr gibt. Das fängt mit eingescannten Texten, die keine Screenreader lesen kann an und hört bei unübersichtlichen Moodle-Kursen, die für Studierende mit Schwierigkeiten bei der Sinnesverarbeitung kaum zu navigieren sind, noch lange nicht auf.

Dieses Problem wird nicht selten durch die seit dem Wegfall von physischen Treffen erschwerte Kommunikation mit Dozierenden verschärft. Anfragen von Studierenden gehen in der Flut von Mails, die Dozent_innen bekommen unter und wichtige Anliegen zum Thema Barrierefreiheit bleiben dadurch teilweise unbeantwortet oder müssen immer wieder vorgebracht werden.

Insgesamt hat sich der Arbeitsaufwand pro Seminar seit dem Umstieg zur Online Lehre wohl stark erhöht, was auch mit dem viel größeren Organisationsaufwand zusammenhängt

Schulze: Einerseits wurde mir von Studierenden berichtet, dass Sie durch die Verlagerung des Studiums ins Internet mehr Möglichkeiten der Teilnahme an Veranstaltungen haben, weil u.a. Anreisen und der damit verbundene Zeitaufwand wegfallen. Andererseits hat sich aber auch gezeigt, dass wir als Hochschule noch nicht umfassend darauf eingestellt waren, Materialien von ganzen Seminaren in der jeweilig notwendigen Form zur Verfügung zu stellen, damit überhaupt ein Zugang zu Lehrinhalten möglich ist – z.B. zu Texten, die mit einem Screenreader lesbar sind.

Außerdem ist gerade für Personen mit psychischen Belastungen die Umstellung auf die Online-Lehre nicht immer glatt gelaufen, weil die neuen Anforderungen auch zusätzlich Stress auslösen können, z.B. wenn einfach sehr viele Menschen auf einem Bildschirm sichtbar sind oder auch mal durcheinander sprechen.

Und dann gibt es schließlich noch die ganz „normalen" Probleme, die andere Studierende in der Pandemie auch haben (z.B. Wegfall der Studienfinanzierung) – diese kommen dann aber zu einer ggf. schon sehr herausfordernden Situation im Online-Semester noch hinzu.

 

Vor welchen Herausforderungen stehen die Studierenden durch den Lockdown?

Stoffers: Die fehlende Tagesstruktur und fehlende soziale Kontakte mit physischen Treffen sind gerade für Personen mit psychischen Erkrankungen teilweise ein erhebliches Problem.

Studierende, die Studienassistenz benötigen, um ihr Studium absolvieren und Nachteile ausgleichen zu können haben außerdem das Problem, dass sie ihre Studienassistent_innen nicht mehr persönlich treffen können. Manche Aufgaben können zwar auch online erledigt werden, aber für andere wäre die physische Anwesenheit der Assistent_innen nötig.

Ein Problem, das jetzt nach dem ersten Semester mit COVID-19 noch nicht sehr präsent ist, mit dem ich persönlich allerdings nächstes Semester, spätestens in dem danach rechne ist die Durchführung von Praktika für Studierende, die einer Risikogruppe angehören. Da mit einer effektiven Impfung sicherlich noch nicht innerhalb der nächsten Monate zu rechnen ist, werden viele Studierende mit chronischen Krankheiten und Behinderungen auch über das Sommersemester 2020 in häuslicher Isolation verbleiben müssen. Die Lehre wurde zwar auf Online-Formate verlagert und wird auf absehbare Zeit auch Online bleiben, das gilt aber nicht für Praktika. Bisher gibt es auch keinen Vorschlag von Seiten der Hochschule, was den Ersatz von Praxisphasen oder andere mögliche Lösungen für dieses Problem betrifft. Das wird voraussichtlich für viele Studierende mit chronischen  Krankheiten eine unfreiwillige Verlängerung des Studiums bedeuten.

"Grundsätzlich ist die einfachste Maßnahme, mit der sehr viel erreicht werden kann, das Schaffen von Bewusstsein für die Situation von behinderten, chronisch kranken und psychisch kranken Studierenden bei Dozent_innen (und Mitarbeiter_innen der Verwaltung)."


Mit welchen Anliegen kommen diese Studierenden zu Ihnen?

Schulze: Im Sommersemester 2020 kamen bisher vor allem Studierende in die Beratung, weil bei ihnen mehrere Dinge zusammen kommen: Wenn es in der Familie einen Pflegefall gibt und dafür pandemie-bedingt Betreuungslösungen wegbrechen, die Studienfinanzierung wegen der Pandemie auf der Kippe steht und die Praktikumsstelle auch erst einmal schließt, ist eine eigene chronische Erkrankung von Studierenden „nur" eins von vielen Themen, die belastend sein können. Hier gilt es dann erst einmal heraus zu finden, was unter diesen aktuell besonderen Umständen überhaupt noch möglich ist und welche Alternative für Betreuung, Finanzierung usw. evt. noch offen stehen. Auch der Abbruch des Studiums steht manchmal im Raum.

 

Was könnte für diese Studierendengruppe von Seiten der Hochschule noch besser gemacht werden?

Stoffers: Grundsätzlich ist die einfachste Maßnahme, mit der sehr viel erreicht werden kann, das Schaffen von Bewusstsein für die Situation von behinderten, chronisch kranken und psychisch kranken Studierenden bei Dozent_innen (und Mitarbeiter_innen der Verwaltung). Wenn sich Lehrende bestimmter Probleme und Herausforderungen, die ihre Student_innen eventuell haben, bewusst sind, können sie viel besser damit umgehen und viele davon entstehen gar nicht erst, oder können schnell aus der Welt geschafft werden.

Hierfür wäre auch die Verbesserung der Kommunikation zwischen Studierenden und Lehrpersonal förderlich. In meiner persönlichen Erfahrung aus diesem ersten Online-Semester ist mit einer wöchentlichen Sprechstunde via Telefon oder Zoom, wie manche Lehrenden sie bereits anbieten schon sehr viel zu erreichen.

Das wohl größte Thema ist aber ganz klar der Abbau von digitalen Barrieren, den wir bereits seit Jahren durchzusetzen versuchen, der jetzt aber natürlich zu einer noch dringlicheren Aufgabe geworden ist. Hier ist Einsatz seitens der Hochschule gefragt, sowohl was die Verfügung von personellen und technischen Ressourcen, als auch die Schulung von Dozent_innen betrifft.

Schulze: Ich stimme Clara Stoffers zu: Das Bewusstsein dafür, was es bedeutet, mit einer Behinderung, chronischer Krankheit oder psychischer Belastung zu studieren, ist ein wichtiger Ansatzpunkt. Sicher ist es nicht immer einfach, als Lehrende_r oder auch als Verwaltungsmitarbeiter_in auf die verschiedensten Belange von Studierenden Rücksicht zu nehmen oder diese mit einzubeziehen. Diese Gruppe von Studierenden braucht und verdient aber unsere besondere Unterstützung (oder zumindest unsere Aufmerksamkeit). Nicht jede Behinderung, Krankheit oder Belastung ist außerdem sofort sichtbar oder erkennbar – vor allem auf einem Bildausschnitt in einer Videokonferenz, auf den sich Kontakte ja zurzeit meistens noch beschränken. Für Studierende ist es dann teilweise sehr mühsam, auf jede_n einzelne_n Kolleg_in mit ihren Anliegen zu zugehen. Das Mindeste, was wir anbieten können und sollten, ist eine offene Tür und ein offenes Ohr insbesondere für diese Studierenden!

 

Und was ist aus Ihrer Sicht noch wichtig?

Schulze: Für einen ersten Einblick in die besonderen Bedarfe der Gruppe von Studierenden mit Behinderung, chronischen Krankheiten und psychischen Belastungen – aber auch von anderen Studierendengruppen in besonderen Situationen – habe ich am Anfang des Sommersemesters 2020 eine kurze Handreichung erstellt. Bei Interesse ist sie auf der Webseite von "alice barrierefrei" zu finden.

Für Fragen und Anregungen stehe ich als Beauftragte für Belange von Studierenden mit Behinderung, chronischen Krankheiten und psychischen Beeinträchtigungen für alle Angehörigen der ASH Berlin zur Verfügung, also nicht nur für Studierende, sondern auch für Lehrende und die Verwaltungsmitarbeiter_innen. Sprechen Sie mich gerne an!

 

Kerstin Schulze arbeitet im Familienbüro der ASH Berlin und ist Beauftragte für Belange von Studierenden mit Behinderungen, chronischen Krankheiten oder psychischen Belastungen.

Clara Stoffers ist Studierende und Vorsitzende der Kommission für Barrierefreiheit

 

Errungenschaften in der Pandemie – Was wir gern behalten möchten:

Gerade für die Gruppe der Studierenden mit Familienaufgaben und für die Studierenden mit Behinderungen, chronischen Krankheiten oder psychischen Belastungen haben sich die Veränderungen im Lern- und Lehralltag an der ASH Berlin auch sehr positiv ausgewirkt. Vieles ist möglich gemacht worden und sollte unbedingt beibehalten werden. Anbei eine kleine Auflistung ohne Rangfolge:

Was soll bleiben:

  • Online-Sprechstunden, zumindest neben Präsenz-Sprechstunden
  • Flexible (Online-)Lösungen und echte Asychronität in der Lehre
  • Online-Lösungen für das bevorzugte Belegen und die Lehrevaluation
  • Flexibilität in der Verwaltung

Warum soll es bleiben?

  • Spart Wege ein für Menschen, deren Mobilität sowieso schon eingeschränkt ist, nicht nur in der Pandemie
  • Spart vielen Studierenden Zeit und Energie, die Sie in ihr Studium investieren können
  • Ist nachhaltig, z.B. weil es Papier spart

Kerstin Schulze, Clara Stoffers und Swantje Köbsell (Professorin für Disability Studies)