Hochschulleben Two Years of Pain: Voices from Gaza and Israel

Noy Katsman und Hamza Howidy setzen sich gegen Polarisierung und für ein gewaltfreies Zusammenleben von Palästinenser_innen und Israelis ein.

Über ihre Erfahrungen als Aktivist_innen und Migrant_innen in Israel, Gaza und Deutschland sprachen Hamza Howidy und Noy Katsman mit Vered Berman (v.l.n.r.) am zweiten Jahrestag des Angriffs der Hamas auf Israel.

Die vergangenen zwei Jahre waren in Israel und Gaza geprägt von Mord, Wut und Trauer, Racheakten, einseitigen Darstellungen sowie – und das war weltweit zu beobachten – einer zunehmend polarisierenden Debatte und einem dramatischen Anstieg von anti-palästinensischem Rassismus und von Antisemitismus. Gegen Polarisierung sowie Gewalt und stattdessen für Vergebung und ein Zusammenleben von Palästinenser_innen und Israelis in der Region, unter Bedingungen der wechselseitigen Anerkennung, setzen sich die Aktivist_innen Noy Katsman und Hamza Howidy ein. Beide waren am vergangenen Dienstag zu Gast an der ASH Berlin, um auf der Veranstaltung „Two Years of Pain: Voices from Gaza and Israel” über ihre Erfahrungen als Aktivist_innen und Migrant_innen in Israel, Gaza und Deutschland zu sprechen.

Noy Katzman studiert Gender- und Kulturwissenschaften, lebt in Berlin und Würzburg und bezeichnet sich selbst als „Aktivist_in für Gerechtigkeit und Frieden“. Noys Bruder, der im Kibbuz Holit nahe der Grenze zum Gazastreifen lebte, wurde am 7. Oktober 2023 getötet. Hamza Howidy ist ein palästinensischer Friedensaktivist aus Gaza, der heute als Geflüchteter in Deutschland lebt. Er wurde mehrfach von der Hamas verhaftet und gefoltert, weil er gegen sie demonstrierte. Er spricht sich sowohl gegen die Hamas als auch gegen die israelische Besatzung aus und fordert stattdessen universelle Menschenrechte und eine gerechte Zukunft für alle.

Zu Beginn der Veranstaltung begrüßte Bettina Völter, Präsidentin der ASH Berlin, das Publikum und dankte Noy Katzman und Hamza Howidy für ihre Bereitschaft und Offenheit, ihre Gedanken und Erfahrungen zu teilen. Sie ordnete die Veranstaltung in den universitären Kontext ein: „Wir beginnen ein neues akademisches Jahr in einer Zeit anhaltender globaler Spannungen und eskalierender Konflikte. Diese Ereignisse betreffen uns nicht nur äußerlich, sondern prägen zunehmend auch unseren universitären Alltag. Sie fordern uns als Universität heraus, Verantwortung zu übernehmen und Räume für kritische Debatten zu schaffen. (…) Für uns ist es in diesen schwierigen Zeiten von entscheidender Bedeutung, eine lernende Institution zu bleiben.“

Bettina Völter dankte außerdem Vered Berman für die Organisation dieser wichtigen Gesprächsrunde. Vered Berman ist seit Juni diesen Jahres Ansprechperson zu Antisemitismus an der ASH Berlin und hat die Veranstaltung nicht nur organisiert, sondern auch moderiert. Als Gründerin der jüdischen Empowerment-Gruppe Jeladot.im und Friedensaktivistin im Parents Circle Families Forum setzt sich Vered Berman für eine diskriminierungskritische, dialogorientierte und de-polarisierende Auseinandersetzung mit Antisemitismus, anti-muslimischem sowie anti-palästinensischem Rassismus und Israel/Palästina ein. 

In ihrer Begrüßung unterstrich Vered Berman den sehr persönlichen und politisch sensiblen Charakter der Diskussion und bat das Publikum, „sich mit Respekt, Offenheit und aufmerksamer Zuhörbereitschaft an der Veranstaltung zu beteiligen“. Für den thematischen Einstieg wurde ein Ausschnitt aus dem Film „Testemonies of Pain and Hope“ gezeigt, in dem zwei Frauen zu Wort kamen, die durch den Konflikt zwischen Israelis und Palästinenser_innen Angehörige verloren haben. Der Film wurde vom Parents Circle Families Forum (PCFF) produziert. Das PCFF ist eine israelisch-palästinensische Organisation mit über 800 Mitgliedern. Sie alle eint der Verlust naher Angehöriger durch den anhaltenden gewaltvoll ausgetragenen Konflikt und der Wunsch nach Versöhnung, Dialog und Frieden. Die Veranstaltung wurde durch ein Awareness-Team begleitet, das sich bei Gesprächsbedarf zur Verfügung stellte.

Vered Berman bat die Gäste Hamza Howidy und Noy Katsman, zunächst einen kleinen Einblick in ihr Leben bis zum 7. Oktober 2023 zu geben. Hamza Howidy erzählte, dass er 1997 in Gaza geboren ist und dass er, mangels Alternativen, Islamwissenschaften an der Universität in Gaza studiert hat. Nach seinem Abschluss 2019 musste er sich entscheiden: für oder gegen die Hamas und damit für ein Leben mit Privilegien oder in Angst. Während sich viele seiner Freunde aus Not und in der Hoffnung auf wirtschaftliche Vorteile und Privilegien der Hamas anschlossen, entschied er sich für den Widerstand. Er nahm an Protesten gegen die Hamas teil, wurde verhaftet und misshandelt. Im Jahr 2023, wenige Monate vor dem Krieg, ging er erneut auf die Straße, um zu zeigen, dass es in Gaza Menschen gibt, die Freiheit und Veränderung wollen. Wieder wurde er festgenommen und misshandelt. Nach seiner Freilassung verlor er den Glauben daran, vor Ort etwas bewirken zu können und beschloss, Gaza zu verlassen und in Europa ein neues Leben zu beginnen.

Noy Katzman schilderte, dass sie in Israel als Kind amerikanisch-jüdischer Einwanderer aufgewachsen ist. Als Außenseiter_in versuchte sie, sich anzupassen, und wuchs in einem nationalreligiösen Umfeld auf. Nach der Schule diente sie in der Marine und war an der Belagerung Gazas beteiligt. Die Erfahrungen während des Militärdienstes ließen sie die eigene Haltung zu Palästinenser_innen hinterfragen. Sie verspürte den Wunsch, deren Perspektive zu verstehen. Daraufhin lernte sie mehr und mehr Palästinenser_innen kennen, begann palästinensische und israelische Autor_innen zu lesen und die eigene Sicht auf die Geschichte und den Konflikt zu hinterfragen. So wurde sie politisch aktiv und schloss sich der Bewegung „Standing Together“ an. Kurz vor dem 7. Oktober ging sie für ein Austauschprogramm nach Leipzig. 

Für Hamza Howidy gestaltete sich die Migration nach Deutschland deutlich schwieriger, da der Gazastreifen seit Jahren abgeriegelt ist. Der einzige Ausweg führte über den Grenzübergang Rafah nach Ägypten. Er floh über die Türkei nach Griechenland. Dort war er wegen seiner politischen Aktivitäten nicht sicher und kämpfte sich weiter nach Deutschland durch. Doch auch hier, so erzählte er, sei das Leben als Palästinenser nicht leicht. Man müsse den Behörden immer wieder beweisen, keiner politischen Organisation anzugehören. „Es ist leider nicht einfach, insbesondere (…) für einen Migranten in Zeiten, in denen sich die politischen Parteien gegenseitig darin überbieten, wer die Migranten stärker unterdrücken, mehr von ihnen abschieben und mehr daran hindern kann, in dieses Land zu kommen.“

Bedrückend wurde die Atmosphäre im Audimax, als Hamza Howidy und Noy Katzman berichteten, wie sie den 7. Oktober 2023 erlebt haben. Hamza Howidy erfuhr vom Angriff der Hamas, als er sich in einem griechischen Flüchtlingscamp aufhielt. Zwei Tage lang war er wie betäubt und völlig sprachlos. Dann fasste er den Entschluss, den Menschen in Gaza eine Stimme zu geben – jenen, die unter der eingeschränkten Pressefreiheit kaum Gehör finden und die Gewalt der Hamas entschieden ablehnen. Er wollte zeigen, dass viele in Gaza solche Verbrechen niemals rechtfertigen würden.

Noy Katzman befand sich zu der Zeit in Leipzig und war am Abend des 7. Oktober mit Freund_innen unterwegs. Nachts rief ihr Vater an und sagte: „Hör zu, dein Bruder Hayim wurde getötet.“ Hayim Katzman war Wissenschaftler und schrieb zahlreiche Artikel darüber, was die Linke in Israel zu dieser Zeit tun sollte. Er gehörte außerdem zu den Menschen, die kranke Bewohner_innen Gazas in israelische Krankenhäuser fuhren. Nach dem Tod des Bruders führte Noy Katzman zahlreiche Interviews mit internationalen Medien, aber bis auf ein kleines linkes Magazin interessierte sich kein israelisches Medium für ein Interview mit dem Tenor, dass eine gewaltvolle Antwort auf einen Angriff nicht im Sinne der Ermordeten sei. Noy Katzman musste sich im Gegenteil häufig anhören, nicht wie eine Person zu reden, die ihren Bruder verloren hat. Sie sei aber nicht wütend auf die Palästinenser_innen – auch wenn das die israelische Mehrheitsgesellschaft erwarten würde – sie sei wütend auf die extremen Nationalisten von der Hamas. „Die Leute versuchen, mein Narrativ zu kontrollieren, sie wollen nicht, dass meine Sichtweise eine andere ist. Die politische Rechte, insbesondere in Israel, profitiert sehr von dieser Gewalt und diesem Hass.“

Das Verhalten der deutschen Regierung in Bezug auf den Nahost-Konflikt findet Hamza Howidy „beschämend“. „Deutschland hätte Bedingungen für die Entwaffnung der Hamas und die Freilassung der Geiseln stellen können, aber man hat sich entschieden, nichts zu tun. Selbst als die Europäische Union versuchte, Sanktionen gegen Israel zu verhängen, aufgrund der Blockade der humanitären Hilfe, hat Deutschland sein Veto eingelegt.“ Er erkennt die besondere Verantwortung Deutschlands an, betonte jedoch, dass klar zwischen dem Schutz jüdischen Lebens und der israelischen Zivilbevölkerung einerseits und der politischen Unterstützung der Regierung Netanjahu andererseits unterschieden werden müsse.

Dem stimmte Noy Katzman zu und ergänzte: „Ich kann verstehen, dass es für Deutschland sehr wichtig ist, einen sicheren Raum für Jüdinnen und Juden zu halten – etwas, das meiner Großmutter einst fehlte. (Anmerkung der Red.: Noys Großmutter ist in den 1930er Jahren in Dortmund geboren.) Aber wenn wir sagen, dass Israel ein sicherer Ort für alle Juden sein muss, schließt das dann auch linke Juden, wie mich und meine Freunde ein? Ich bin mir nicht sicher, denn alle, die die jüdische Vorherrschaft kritisieren, fühlen sich heute nicht mehr sicher.“

Zu den Protesten der deutschen Zivilgesellschaft gefragt, sagte Hamza Howidy, dass sich die deutsche Gesellschaft im Verlauf des Krieges deutlich polarisiert habe – in pro-israelische und pro-palästinensische Lager. Anfangs habe er sich über die Solidaritätsproteste für Gaza gefreut, sie aber auch kritisch begleitet, um Missstände zu benennen, ohne die Bewegung selbst zu verurteilen. Er hat an der Großkundgebung „All Eyes on Gaza“ Ende September in Berlin teilgenommen. Dort seien weder Unterstützung für die Hamas zu sehen, noch antisemitische Parolen zu hören gewesen. Die Forderung der Demonstrierenden sei gewesen, den Krieg, den Hunger und die humanitäre Katastrophe in Gaza zu beenden. „Ich habe mich daran beteiligt, weil ich denke, dass wir alle dafür eintreten sollten.“ Zugleich warnte er vor einer Minderheit, die den Konflikt missbrauche, um antisemitische oder pro-Hamas-Parolen zu verbreiten. Solche Aufrufe zu Gewalt hätten nichts mit pro-palästinensischem Engagement zu tun und müssten klar verurteilt werden. Auch die Demonstration, die für den 7. Oktober in Berlin geplant war, kritisierte er. Während in Gaza seit zwei Jahren Menschen an Hunger, Kälte und Vertreibung litten und Geiseln noch immer festgehalten würden, riefen die Organisator_innen der Demo zur „vollständigen Befreiung“ auf und verherrlichten den 7. Oktober. Für ihn sind diese Aufrufe zu Gewalt unerträglich – vor allem, weil er selbst viele Angehörige und Freunde verloren habe. 

Zur Rolle der deutschen Universitäten gefragt betonte Hamza Howidy, dass alle Teile der Gesellschaft Verantwortung tragen, den Konflikt zu beenden – auch die Universitäten. Dort habe die Polarisierung zugenommen, mit pro-israelischen und pro-palästinensischen Lagern, die sich gegenseitig bekämpften, statt Lösungen zu suchen. Hochschulen sollten ihre Energie darauf richten, Wege zur Beendigung des Kriegs und der humanitären Katastrophe zu finden, anstatt den Graben zu vertiefen. Wissenschaft und Intellektuelle müssten neue Ideen und Strategien entwickeln, um Druck auf beide Seiten auszuüben – darin liege eine reale Hoffnung auf Veränderung.

Und was schenkt den beiden Hoffnung? Hamza Howidy sieht einen kleinen Hoffnungsschimmer – nicht, weil Israel oder die Hamas Frieden wollten, sondern weil internationaler Druck wachse, den Krieg und die humanitäre Katastrophe zu beenden und Gaza wiederaufzubauen. Eine bessere Zukunft sei nur ohne Netanjahus Regierung und ohne die Hamas möglich.

Noy Katzman ist weniger hoffnungsfroh gestimmt. Sie verfolgt die Situation in den Sozialen Medien und hat den Eindruck, dass viele Menschen in ihrer Opferrolle verharren. Nicht wenige ihrer linken Freund_innen dächten darüber nach, Israel zu verlassen und nach Deutschland zu kommen. Positiv stimmt sie, dass in Ländern wie Spanien die Öffentlichkeit Regierungen zu konkretem Handeln gezwungen hat – das brauche es in ganz Europa. Entscheidend sei, Druck auf die eigenen Regierungen auszuüben, um Waffenlieferungen und große Finanzhilfen zu stoppen. 

Vered Berman ergänzte, was ihr Hoffnung gibt, und formulierte damit auch das zuversichtliche Schlusswort der Veranstaltung: „Menschen wie ihr gebt mir Hoffnung, weil ich fest an die Kraft des Erzählens und die Kraft persönlicher Geschichten glaube. Ich bin euch so dankbar, dass ihr heute hier seid, eure persönlichen Geschichten mit uns teilt und zumindest mir Hoffnung gebt.“