Hochschulleben, Seitenwechsel Sportlicher Blick hinter Gefängnismauern

Fußball im Jugendarrest – Begegnung, Fragen und Kritik an einem System, das Teilhabe verspricht, aber oft Grenzen setzt.

Sonntagmorgen, 18.05.2025, Punkt 9:30 Uhr - Nach einer kleinen Weltreise stehen wir vor den Toren der Jugendarrestanstalt Berlin-Brandenburg (JAA) in Berlin-Lichtenrade und warten darauf, eingelassen zu werden. Wir – das sind Bella, Max, Laila und Vincent, allesamt Bachelorstudierende der Sozialen Arbeit an der ASH Berlin, begleitet von unserem Professor Julian Knop. 
Die Idee: Fußball spielen - ein sportlicher Austausch mit jungen Menschen, die sich aufgrund einer jugendstrafrechtlichen Verurteilung im Freiheitsentzug befinden, gepaart mit spontanen Begegnungen und im besten Fall einem Pokal, den wir mit nach Hause nehmen. Ein wenig aufgeregt sind wir alle, denn wir wissen nicht genau, was uns erwartet. 

Überraschungsgast: Arne Friedrich

Nach einem freundlichen Empfang geben wir unsere Ausweise ab, tauschen Straßen- gegen Sportkleidung und werden durch einen Sozialarbeiter in den Ablauf des Tages eingeführt. Dabei fällt uns direkt auf: Die Sprache im Umgang mit den Jugendlichen ist ungewohnt direkt – Begriffe wie „Kloppies“ irritieren, werfen aber auch erste Fragen zum professionellen Selbstverständnis auf. Gleichzeitig spüren wir das Bemühen der Mitarbeitenden, die Veranstaltung reibungslos und für alle Beteiligten gut zu gestalten. 
Auf dem Spielfeld treffen wir auf die anderen Teams – zu unserer Überraschung sind es nur zwei: ein Team aus Mitarbeitenden der JVA Moabit und ein weiteres, bestehend aus fünf arrestierten jungen Menschen sowie zwei Angestellten der JAA. Bei der Anzahl an Arrestierten überrascht uns die geringe Beteiligung, nur fünf der 17 Jugendlichen spielten mit. Auf Nachfrage wird uns gesagt, dass die anderen keine Lust gehabt hätten. 
Der Schiedsrichter erklärt die Spielregeln, dann geht es auch schon los. Gespielt wird jeweils 10 Minuten, und das gegen beide Teams – zweimal. Das Turnier verläuft durchweg fair, die Stimmung ist freundlich – anfangs vielleicht noch etwas zurückhaltend, doch mit jeder Spielminute taut die Atmosphäre weiter auf. Besonders die Jugendlichen zeigen großen Einsatz, sind mit Ehrgeiz und echter Spielfreude dabei und nehmen das Turnier sichtbar ernst. Nach dem Turnier gibt es Bratwurst und eine kleine Siegerehrung – inklusive Überraschungsgast: Arne Friedrich, ein bekannter Ex-Fußballspieler, überreicht Urkunden und den Pokal.

Widersprüche

Leider bleibt der Kontakt zu den Jugendlichen während des Turniers recht oberflächlich – es geht niemand so richtig aktiv auf die anderen zu. Vermutlich hätte es einfach ein bisschen Vorlauf zum Kennenlernen gebraucht. Gegen Ende ergibt sich nämlich doch noch ein kurzes Gespräch mit zwei Jugendlichen. Sie erzählen, dass sie eigentlich gerne beim Turnier mitgemacht hätten - was interessanterweise im Widerspruch zu dem steht, was uns zuvor gesagt wurde. Den wirklichen Grund, warum sie nicht teilgenommen haben, konnten wir letztendlich nicht erfahren. Wir stehen noch ein wenig in lockerer Runde zusammen, kicken den Ball hin und her, während die beiden ein wenig von ihrem Alltag im Freiheitsentzug berichten. Dann müssen sie leider schon wieder in ihre Hafträume und wir machen uns auf den Weg nach draußen, wo wir nochmal gemeinsam über den Tag reflektieren. 
Wir alle haben eine etwas bedrückte Stimmung, weil wir uns fragen, warum so wenige Inhaftierte mitgespielt haben. Eigentlich sollte das Turnier doch für die Jugendlichen sein, oder etwa nicht? Lässt sich eine Einschränkung der Teilnahme auch als eine Form der doppelten Bestrafung verstehen? Oder diente das Turnier nur als inszenierte Außendarstellung der Arrestanstalt?  
Weiter stellt sich uns die Frage, welche Wirkung solche Events auf die Jugendlichen haben – insbesondere, wenn selbst Freizeitangebote von restriktiven Regeln durchzogen sind. Wenn etwa während der Siegerehrung Disziplin eingefordert wird (‘Ruhe, bitte!’ - wann ist es jemals komplett still auf einem Fußballplatz?), bleibt dann überhaupt noch Raum für echte Teilhabe? 
Und warum wurden die Jugendlichen, die sich während des Turniers weitgehend unauffällig verhielten, uns gegenüber im Vorfeld mit Worten wie ‘Kloppies’ gelabelt? Für uns schien es so, als würde das Verhalten der Jugendlichen schon vorab gerechtfertigt und entschuldigt, um uns einen guten Eindruck zu vermitteln. Allerdings ist doch vor allem im Sport eine lebhafte und leidenschaftliche Art die beste Voraussetzung, um eine lockere Stimmung herzustellen.

Was uns nachdenklich stimmt, ist weniger der Ablauf an sich, sondern vielmehr das, was spürbar war: Teilhabe ist möglich – aber oft abhängig von vielen Faktoren, die sich unseren Einblicken entziehen. Der Tag zeigt uns, dass gut gemeinte Angebote wie ein Fußballturnier zwar Brücken bauen können, aber auch an institutionelle und strukturelle Grenzen stoßen.

Exkurs: Geschichte und Gegenwart des Jugendarrestes 

Ambivalenzen, wie sie sich in unseren Erfahrungen widerspiegeln, zeigen sich vor allem beim Blick auf die Geschichte des Jugendarrestes. Das deutsche Jugendstrafrecht trägt bis heute sichtbare Spuren seiner nationalsozialistischen Vergangenheit. Der kurze Freiheitsentzug von maximal vier Wochen in Form von Jugendarrest ist eine Sanktionsart des Jugendstrafrechts, die im Jugendgerichtsgesetz (JGG) als „Zuchtmittel“ bezeichnet wird. Der Begriff „Zuchtmittel“ stammt ursprünglich aus der NS-Zeit. Der Jugendarrest selbst wurde 1940 im Rahmen der „Verordnung zur Ergänzung des Jugendstrafrechts“ eingeführt und damals als das „modernste nationalsozialistische Erziehungsmittel“ gefeiert – gedacht als „Kernstück“ eines Jugendstrafrechts, das Gehorsam und Disziplin über individuelle Förderung stellte. 

Nach dem Ende des Nationalsozialismus blieb diese Struktur nahezu unangetastet bestehen. Bis heute beruht das Jugendgerichtsgesetz auf einer dreigliedrigen Systematik: Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel und Jugendstrafe. Diese formale Dreiteilung spiegelt kein rein pragmatisches Ordnungssystem wider, sondern trägt eine ideologische Handschrift: Sie unterscheidet Jugendliche nach vermeintlichen Charakterdispositionen – wer „erziehbar“ erscheint, erhält milde Maßnahmen; wer als hartnäckig oder gefährlich gilt, wird härter sanktioniert. Hier kommt auch der Begriff der „schädlichen Neigung“ ins Spiel, der bis heute in §17 Abs. 2 JGG verankert ist. Dieses juristische Werturteil erlaubt es, Strafen zu verhängen, nicht nur für das begangene Verhalten, sondern auf Basis einer vermuteten Persönlichkeitsstruktur. Ursprünglich aus der nationalsozialistischen „Tätertypenlehre“ hervorgegangen, wirkt hier ein Denken fort, das von biologischer oder moralischer Defektzuschreibung geprägt war – mit erheblichen Konsequenzen für marginalisierte Jugendliche.

Der heutige Jugendarrest wird zwar unter demokratischen Rahmenbedingungen vollzogen, doch seine pädagogische Ausrichtung bleibt umstritten. Es werden verschiedene Formen des Arrestes angewandt wie z.B. Freizeit- (ein oder zwei Wochenenden), Kurz- und Dauerarrest (min. eine Woche, max. 4 Wochen) oder ein Warnschussarrest (als Ergänzung zu einer Bewährungsstrafe). Er soll „das Ehrgefühl des Jugendlichen wecken“ und zur Verantwortungsübernahme anregen. 

In der Praxis fehlt es jedoch häufig an konzeptionell fundierter sozialpädagogischer Begleitung, was den Arrest oft zu einer reinen Freiheitsentziehung ohne nachhaltigen Lerneffekt verkommen lässt. Zahlreiche Studien belegen die geringe Resozialisierungswirkung, während gleichzeitig sozial benachteiligte Jugendliche überproportional betroffen sind. Kritisiert wird weiter, dass Arrestanstalten häufig isoliert vom Hilfesystem arbeiten und kaum Anschluss an ambulante Maßnahmen oder soziale Unterstützung besteht. 

Diese Kontinuitäten werfen grundsätzliche Fragen auf: Ist Soziale Arbeit in einem so stark von Kontrolle, Zwang und Fremdbestimmung geprägten Setting überhaupt möglich – oder läuft sie Gefahr, zur Erfüllungsgehilfin eines autoritären Strafsystems zu werden? Oder liegt gerade in diesen restriktiven Kontexten ein besonderer Auftrag für Soziale Arbeit – nämlich dafür zu sorgen, dass auch in Arrestanstalten Beziehung, Reflexion und Perspektivarbeit möglich werden?

Eine kritische Auseinandersetzung ist notwendig

Unser Fazit fällt klar aus: Eine wirkliche Entnazifizierung des Jugendstrafrechts hat nicht stattgefunden. Stattdessen wurde ein Umgang mit abweichendem Verhalten konserviert, der sich weniger an sozialpädagogischen Prinzipien als an Disziplinierungsidealen orientiert. Will man ein Jugendstrafrecht, das den Anforderungen einer demokratischen, menschenrechtsorientierten Gesellschaft gerecht wird, ist eine kritische Auseinandersetzung mit diesen historischen Kontinuitäten unerlässlich – ebenso wie der Mut zu einer strukturellen und inhaltlichen Neuausrichtung.

Den Pokal haben wir zwar nicht gewonnen, dafür nehmen wir Erfahrungen mit, die zum Nachdenken anregen: Über Chancen und Grenzen in der Arbeit mit straffällig gewordenen Jugendlichen, über pädagogische Haltung und über das Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Unterstützung. 

Wir kommen zum Schluss: Es braucht mehr solcher Begegnungen. Und vielleicht auch neue Ideen – zum Beispiel ein selbstorganisiertes Turnier im nächsten Sommer 2026. Dann hoffentlich mit noch mehr Jugendlichen auf dem Platz.