Hochschulleben „Respekt vor der immensen Aufgabe, vor der die SAGE-Berufe stehen!“

Rückblick auf die hochschulweite Jahrestagung des Sage-SAGE!-Projekts

Blick auf die Bühne im Audimax mit Teilnehmenden im Stuhlkreis
Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. Gudrun Piechotta-Henze (rechts auf dem Podium)

Das Projekt-Team begrüßte am Donnerstag, 17.11.2022, über 60 Teilnehmende zur ersten hochschulinternen Jahrestagung des Sage SAGE!-Projekts im Audimax der ASH Berlin. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung BMBF vom 2021 bis 2027 geförderte Sage SAGE!-Projekt kann auf ein arbeits- und ereignisreiches Projektjahr zurückblicken.

In ihrer Begrüßungsrede erinnerte Pro-Rektorin und Co-Projektleiterin, Prof. Dr. Bergs-Winkels an den langwierigen Entstehungsprozess des Projektes. Schon seit der frühen Konzeptionsphase sei die Einbindung möglichst vieler Hochschulangehöriger ein Kernanliegen des Projektes gewesen. Umso erfreulicher war die breite Teilnahme von Studierenden und Kolleg_innen aus der Verwaltung, aus unterschiedlichen Referaten, der Lehre und (Nachwuchs-)Wissenschaftler_innen an dieser Jahrestagung .

Ein besonderer Fokus liegt auf der wissenschaftlich fundierten Verstetigung der Therapie- und Pflegestudiengänge sowie auf der Gewinnung von Berufspraktiker_innen für akademische Karrieren. Die inhaltliche Ausgestaltung, Planung und Durchführung übernahmen die Kolleg_innen des Teilprojekts 3 „Dialog und Transfer zwischen Hochschule, Berufspraxis und Politik“.

Warum Akademisierung von Therapie- und Pflegeberufen bzw. von SAGE-Berufen?

„Der erhebliche Mangel an qualifiziertem Fachpersonal und die unabgeschlossene Akademisierung  sind gesellschaftliche Herausforderungen, die auch im Kontext der Kämpfe für eine Aufwertung von Pflege- und Sorgearbeit, für angemessene Rahmenbedingungen professioneller Arbeit mit Menschen und für soziale Infrastruktur zu sehen sind", so Prof. Dr. Julia Franz (Schwerpunktprofessorin für Forschung und Transfer in den Berufsfeldern der Sozialen Arbeit) in ihrem Einführungsvortrag.

„Europaweit ist Deutschland das einzige Land, in dem therapeutische Berufe nicht vollakademisiert sind. Die Akademisierungsquote bei Ergo- und Physiotherapeut_innen liegt lediglich bei ca. 5 %", so fasste Prof. Dr. Elke Kraus (Schwerpunktprofessorin für Professionalisierung und Akademisierung der Therapieberufe) die „Besonderheiten“ von Physio- und Ergotherapieberufen in Deutschland zusammen. Unter der politisch eingeleiteten Modellklausel von 2010 dürfen Hochschulen auch Therapeut_innen ausbilden, aber es überwiegt nach wie vor die berufsfachschulische Ausbildung. Dabei führt die kürzlich eingeführte Ausbildungsvergütung dazu, dass die Berufsausbildung einen beträchtlichen Konkurrenzvorteil gegenüber dem Studium hat. Die beiden unterschiedlichen und widersprüchlichen Bildungswege münden jedoch in das gleiche Arbeitsfeld und beeinträchtigen die Qualität der Praxis. Zukunftsweisend ist nur eine Vollakademisierung für alle Therapieberufe.

Erst seit 2020 wird die berufs- und hochschulische Ausbildung der Pflegeberufe mit dem Pflegeberufegesetz (PflBG) in teilakademisierter Form geregelt. Prof. Dr. Katja Boguth (Schwerpunktprofessorin „Wissenschaftliche Fundierung eines Praxiscurriculums für das Pflegestudium“) zeichnete Errungenschaften und Herausforderungen des Gesetzes nach. Zwar dürfen allein Pflegefachkräfte mit bestandener beruflicher oder hochschulischer Ausbildung den Pflegeprozess verantworten und die Qualität der Pflege analysieren, sichern und entwickeln. Jedoch sind die pflegerischen Inhalte nicht gesetzlich definiert und die Klärung der Aufgaben- und Tätigkeitsfelder für akademisch ausgebildete Pflegende fehlt.

„In der bereits vollakademisierten Sozialen Arbeit stellt sich die Situation etwas anders dar", wie Prof. Dr. Julia Franz ausführte. Hier stehen die Bemühungen um angemessene Rahmenbedingungen für professionelle Arbeit, um eine soziale Infrastruktur und das Streben nach einer Aufwertung der gesellschaftlich notwendigen Care-Arbeit im Vordergrund. Weitere wichtige Fragen, um die Professionalisierung der Disziplin voranzutreiben, beziehen sich auf die Wissensgenerierung in einer anspruchsvollen Wechselbeziehung zwischen Theorie und Praxis sowie der Notwendigkeit kritischer Wissensverwendung durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit.

Was sind die nächsten Schritte der Schwerpunktprofessorinnen im Teilprojekt 3 „Dialog und Transfer zwischen Hochschule, Berufspraxis und Politik“?

Im Rahmen des Studiengangs Physio- und Ergotherapie sind Konzeptvarianten zu erarbeiten, wie es nach der Modellklausel, die in 2024 enden soll, mit den Studiengängen und -formen weitergehen soll. Außerdem sind curriculare Überlegungen, Nachwuchsförderung und Wissenschafts-Praxis-Transfer Aufgaben der Schwerpunktprofessorin Prof. Dr. Elke Kraus. Mitwirken an bundesweiten Initiativen und Netzwerken zur Vollakademisierung der Therapieberufe sowie berufspolitische Aktivitäten werden weiter vertieft.

Die nächsten Schritte der beiden Schwerpunktprofessorinnen Prof. Dr. Katja Boguth und Prof. Dr. Anja Dieterich im Teilprojekt 3  sind unter anderem die Recherche und angepasste Anwendung internationaler Vorbilder für moderne Berufsrollenmodelle akademisch qualifizierter Pflegefachpersonen, die Entwicklung eines Implementierungsprozesses für das Praxiscurriculum in akademischen Lehreinrichtungen der ASH Berlin sowie berufs- und gesundheitspolitische Strategien im Land Berlin und bundesweit mitzugestalten.

Für die Soziale Arbeit wird Prof. Dr. Julia Franz Themen wie die Verbesserung der Rahmenbedingungen in der professionellen Arbeit, die Aufwertung der gesellschaftlichen Anerkennung der SAGE - Berufe und Wissensgenerierung in der Sozialen Arbeit – u.a. im Rahmen einer „Werkstatt Soziale Arbeit“, einem niedrigschwelliges Angebot für promotions-interessierte und wissenschaftsaffine Sozial Arbeitende – vorantreiben.

In einem „Schreibgespräch“ konnten die Teilnehmenden  ihre Anregungen, Fragen und Gedanken zum Thema auf Papier bringen, die anschließend in einem Workshop ausgewertet bzw. nachbereitet wurden.

In der Podiumsdiskussion wurde anhand eines Fallbeispiels die Vielfalt der Aspekte und Entwicklungen in der praktischen Arbeit von Expertinnen aus der Fachpraxis und den Berufsverbänden diskutiert. Vor allem wurden prekäre Arbeitsbedingungen, offene Zuständigkeitsfragen, isoliertes Arbeiten unterschiedlicher Fachkräfte in den Gesundheitsberufen in den Fokus gerückt. Deutlich wurde beispielsweise, dass unterschiedliche Berufsgruppen zum Teil ähnlich gelagerte ganzheitliche Blickwinkel auf die zu behandelnde Person des Fallbeispiels einnehmen (was priorisiert diese, was wünscht sie sich, wo benötigt sie am dringendsten Hilfestellung). Diese spiegeln sich jedoch kaum in medizinischen Diagnosen und Verordnungen wieder und laufen dadurch Gefahr entweder nicht umgesetzt zu werden oder parallel von mehreren Beteiligten fokussiert zu werden. Zudem wurde diskutiert, dass es zum Teil einen erheblichen Unterschied machen kann, wie gut die zu behandelnde Fachkraft ausgebildet ist, ob zum Beispiel akademisiert, wenn es um deren Handlungsspielräume in der Behandlung und der Bezug zu einer Evidenzbasierung geht. Als ein Fazit kann festgehalten werden, dass die momentanen Strukturen der ärztlichen Weisungsbefugnis einer vernetzen, sich ergänzenden und auch klientenzentrierten Behandlung nicht immer gerecht werden. Als Beispiel für neue Trends wurde der Direktzugang genannt, wie er im Bereich der Physiotherapie diskutiert wird. Welche Entwicklungen und Wechselwirkungen hier auszumachen sind zwischen diesen Entwicklungen, wurde auf dieser Jahrestagung diskutiert.

In zwei parallelen Workshops konnten sich die Teilnehmenden entweder mit Diversität in Pflege- und Gesundheitsberufen oder das Schreibgespräch vertiefen und strukturieren. Im Workshop „Diversity: (K)ein Thema in Pflege- und Gesundheitsberufen?" hielt Prof. Dr. Dr. Hürrem Tezcan Güntekin einen Vortrag über „Diversität in der Pflege. Zur Notwendigkeit von Intersektionalität", in dem sie die homogene Abbildung von Alter in Studien als vorwiegend weiß, deutsch, christlich und heterosexuell kritisierte sowie auf die Notwendigkeit einer intersektionalen Betrachtung von Gepflegten einging. Drei Schwerpunkte von Diversität in der Pflege wurden im Vortrag hervorgehoben: Sexuelle Orientierung, Traumatisierung und Demenz sowie Migration und Pflege. Oftmals führt die Verwobenheit von Merkmalen zu einer mehrfachen Fremdheit von Gepflegten, so z.B. das parallele Auftreten der Merkmale Alter, Demenz, früher Verlust der Zweitsprache Deutsch und Migrationserfahrung. In ihrem Fazit hebt Prof. Dr. Dr. Hürrem Tezcan Güntekin die Notwendigkeit hervor in der Forschung eine intersektionale Perspektive einzunehmen, diversitätssensibel zu versorgen und diversitätssensitiv zu forschen.

In einem zweiten Vortrag präsentierte Mareike Niendorf „ausgewählte diskriminierungskritische Schlaglichter" zum Thema „Diversity in (Pflege-)Einrichtungen". Eine Erörterung der Fragen „Wem dienen öffentliche Einrichtungen? Auf wen sind sie ausgerichtet? Für wen sind sie gemacht?" dient als erster Schritt institutionelle Diskriminierung zu identifizieren. Näher beleuchtet und mit Zitaten untermauert wurden Islamfeindlichkeit, Ableismus sowie LGBTQI+ Feindlichkeit in stationären Settings. Für eine diskriminierungskritische Arbeit bedarf es themenspezifischen Wissens sowie konkreter Konzepte. Hierin sieht Mareike Niendorf eine Perspektive für die Akademisierung der SAGE-Berufe. Forschungsdesiderate können bearbeitet und Critical Diversity kann in den Studiengängen systematisch verankert werden.

Im Anschluss an die Vorträge diskutierten die Teilnehmenden angeregt u.a. wie Critical Diversity ins Feld gebracht werden kann, dass diskriminierende Grundhaltungen von unprofessionellem Handeln durch Überlastung zu differenzieren sind und dass eine Abgrenzung bzw. gegenseitige Schuldzuweisungen zwischen den Berufsgruppen (bspw. Ärzt_innen und Pflegende) zu mehr Barrieren, weniger Austausch und schlechterem Arbeiten führen.

Die Vertiefung des Schreibgespräches fand regen Zuspruch in einem interdisziplinär besuchten Workshop, in dem sich Studierende und Lehrende der verschiedenen Fachgruppen austauschten. Im Ergebnis entstand eine Matrix, in der für die Bereiche „Praxis“, „Bildung“, „Politik“ und „Wissenschaft & Forschung“ drängende aktuelle Probleme, Lösungsansätze aber auch Bedenken genannt wurden. Die im Einführungsvortrag geschriebenen Herausforderungen wurden durch die Teilnehmer_innen des Workshops bestätigt und auch ergänzt. Deutlich wurde die Sehnsucht nach mehr gesellschaftlichen Vertrauen in SAGE-Berufe und ihr Empowerment sowie in eine stärkere Zusammenarbeit, die nicht nur für die Berufspraxis gefordert wurde, sondern sich bereits im Studium beispielsweise in gemeinsamen Lehrveranstaltungen abbilden sollte. Die Akademisierung darf auch nicht mit dem Bachelorgrad enden, es müssen klinische Masterstudiengänge für Therapie- und Pflegestudiengänge angeboten werden und Promotionsprogramme etabliert werden. Der große gesellschaftliche Nutzen, der durch eine Vollakademisierung entstehen würde, stellt sich insbesondere im Bereich Wissenschaft und Forschung dar. So ermöglicht Evidence-Based Practice (EBP) effiziente Versorgung, die Entwicklung und Etablierung neuer Handlungsfelder für die SAGE-Berufe kann dazu beitragen die bestehenden und zu erwartenden Versorgungslücken besser zu schließen und die Berufe attraktiver zu gestalten. Eine Gefahr sahen die Teilnehmenden darin, dass sich durch den Akademisierungsprozess neue Hierarchien innerhalb der Berufe bilden und es zu einer Ausgrenzung der nicht akademisierten Berufsangehörigen kommen könnte. Damit sind auch die Forderungen, die an die Politik gestellt wurden, eng verbunden: Fachliche Aufsicht durch eine Selbstverwaltung, Schaffung von Berufs- und Weiterbildungsordnungen, Investition in Studienprogramme und Forschung und schließlich die Rahmenbedingungen in den Studiengängen zu verbessern durch Finanzierung der praktischen Studienphasen und eine Verlängerung der Regelstudienzeit auf acht Semester.

Ein Aspekt des Projekts ist es, für die Akademisierung der betreffenden Studiengänge auf verschiedenen Ebenen öffentlich zu werben und diese somit voranzutreiben. So ist die Idee entstanden, eine Pressemappe für verschiedene Vertreter_innen aus Politik und Wirtschaft zu entwickeln, in der Argumente für eine Akademisierung konzentriert dargestellt werden und so der gesellschaftliche Nutzen für die Gesellschaft deutlich gemacht wird. Inhalte für diese Mappe wurden in einem weiteren Schritt der Auswertung des Schreibgesprächs aus den Schreibwänden extrahiert. Diese wurden dafür gesammelt, geclustert und dann in einer anschließenden Gruppendiskussion priorisiert. Auch hier wurde deutlich, dass eine Steigerung der Attraktivität der Berufsgruppen und damit eine höhere Zufriedenheit in der Berufsgruppe mit im Vordergrund steht.

Abschließend bedankten sich die Beteiligten dafür, sich an der Tagung und im Workshop interprofessionell über die eigene Status- und Berufsgruppe hinaus, austauschen zu können. Der Zuspruch, die aktive Beteiligung und das große Interesse der teilnehmenden Hochschulangehörigen an der Projektarbeit bestärken die weitere hochschulische Zusammenarbeit im Sinne des Projektvorhabens.

 

Weitere Informationen: www.ash-berlin.eu/hochschule/organisation/sage-sage/kontakt/