Am 2.11.2022 fand unter dem Titel „Inklusion geht alle an - Barrierefreiheit und intersektionale Verschränkungen” der Hochschultag im Wintersemester 2022/2023 statt. Vorausgegangen war die Feststellung, dass sich Barrierefreiheit und Inklusion zwar vereinzelt als Studieninhalte, aber nicht im Leitbild der ASH Berlin wiederfinden. Der Hochschultag diente daher dem Austausch unterschiedlicher Akteur_innen der Hochschule und bot Raum für (Selbst-)Reflexion und Anregungen für die Organisationsentwicklung. Um für viele eine Teilnahme zu ermöglichen und Hürden zu verringern, fand er in hybrider Form statt. 100 Menschen im Audimax und bei den Workshops und 40 Personen, die online teilnahmen, zeigten den großen Wunsch nach mehr Austausch zum Thema Inklusion an der ASH Berlin.
Zeugnisse von Menschen mit Behinderungen in Deutschland und der Ukraine
Der Hochschultag startete schon einen Tag vor dem eigentlichen Datum mit der Wanderausstellung 'überZEUGEN: Geschichten von Menschen mit Behinderung in Deutschland und der Ukraine' des ABiD-Institus, die im Flur vor dem Audimax der Alice-Salomon Hochschule ihren Platz fand. Die Ausstellung stellt Perspektiven von Menschen mit Behinderung im Kontext zeithistorischer Ereignisse vom Ende des zweiten Weltkrieges bis Ende 2021 dar. Neben visuellen Ausstellungsstücken wie Fotos und Texten inklusive Brailleschrift an der Wand wurden auf Tischen auch taktile Ausstellungsstücke bereitgelegt. Linus Beer, studentischer Mitarbeiter in den Werkstätten für Ästhetische Praxis, stellt den emotionalen Nachhall der Ausstellung heraus: „Es waren insbesondere die zu meinem Erleben differenten, alltäglichen Erfahrungen der Menschen und ihre aktionistischen Bemühungen für mehr Anerkennung und Partizipation in der jeweiligen Gesellschaft, welche mich mitunter beeindruckten."
Zur Eröffnung hielten die Kanzlerin der ASH Berlin Jana Einsporn, die Kuratorin der Ausstellung Nataliia Zviagintseva, der stellvertretende Vorsitzende des ABiD-Institus André Nowak und die Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau Eröffnungsreden, die auf die Relevanz der Ausstellung und die Bedeutung für die deutsch-ukrainische Partnerschaft verwiesen. Die Eröffnungszeremonie endete mit einer Bücherspende des ABiD-Instituts für die Bibliothek der ASH Berlin und schlussendlich mit der Begehung der Ausstellung.
Multiple Perspektiven auf eine barrierefreie Hochschule
Am Mittwoch Morgen füllten sich die Reihen des Audimax mit Gästen, gespannt auf den Austausch. Die Prorektorin für Studium und Lehre, Prof. Dr. Dagmar Bergs-Winkels eröffnete den Hochschultag. Um thematisch in das Thema Inklusion einzusteigen, folgten Impulsvorträge, die eine kritische Annäherung an die Begriffe Inklusion und Barrierefreiheit ermöglichen sollten.
Anne Gersdorff, ehemalige Studierende und Referentin bei Sozialhelden e.V., erzählte aus ihrer eigenen Erfahrung als Studierende an der ASH. Kritische Punkte wie die Zugänglichkeit des Gebäudes und die Studieninhalte, in denen Menschen mit Behinderungen so gut wie nie vorkommen, wurden von Anne Gersdorff aufgezeigt und mit der Frage verknüpft, was der Zugang zur Hochschule bedeutet. Das Thema Inklusion falle viel zu oft hinten herunter, kritisierte Gersdorff.
Diese Feststellung wurde auch von anderen Referent_innen geteilt. So wiesen Azize Kasberg aus der Kommission für Barrierefreiheit und Corinna Schmude, Professorin für Inklusive Pädagogik darauf hin, dass gerade das Statement 'Nichts über uns ohne uns!' für wirkliche Inklusion an Hochschulen entscheidend sei. Das Fördern von Selbstermächtigung und Selbstbestimmung sei dabei unabdinglich für das Erreichen einer inklusiven Hochschule und einer inklusiven Gesellschaft. In der Forschung sei Partizipation eines der wichtigsten Themen im Umgang mit Inklusion. Partizipativ zu forschen und zu lehren sollte demnach auch in der Lehre als Haltung vermittelt werden. Corinna Schmude betonte in ihrem Beitrag, dass Inklusion eine gesellschaftliche und rechtliche Verpflichtung ist.
Ausschlüsse aufgrund von Sprache
Auch Saeed Kalanaki griff das Thema Partizipation und Teilhabe in seinem Vortrag auf. Als Studierender mit Fluchterfahrung forschte er in seiner Bachelorarbeit zu Diskriminierungserfahrungen von Menschen mit Fluchterfahrungen durch Sprachbarrieren an der ASH Berlin. Deutsch werde demnach als Voraussetzung für 'gelungene Integration' verstanden und als Voraussetzung für das Studieren an der ASH Berlin gehandelt und dies, obwohl die Hochschule auch ausschließlich englischsprachige Studiengänge anbietet. Menschen mit Fluchterfahrung werden faktisch lediglich auf Grund ihrer Sprachkenntnisse in "gute" und "schlechte" Studierende eingeteilt unabhängig davon, wie sie sich mit Seminarinhalten auseinandersetzen. Sprache könne von Studierenden mit mehr Privilegien wie in einem Wettbewerb genutzt werden, während dies für andere unzugänglich bleibe. Auch Ausgrenzungserfahrungen durch die Arbeit mit anderen Studierenden an der ASH Berlin und die Online-Lehre führten zu negativen Effekten für Studierenden mit Fluchterfahrungen und zu einem Verlust von sozialem Kapital. Studierende mit Fluchterfahrung entwickelten oft selbst Strategien, mit diesen Erfahrungen umzugehen, da Konzepte wie Diversity und Inklusion nicht dazu geeignet scheinen bestehende Barrieren wirklich zu durchbrechen und das Problem als ein strukturelles zu benennen.
„Als zentrale Handlungsfelder wurden bisher Sprache und Kommunikation, digitale Barrierefreiheit und Einbindung studentischer Perspektiven identifiziert. Diese Handlungsfelder zu bearbeiten, ist Aufgabe ALLER Hochschulangehörigen."
Schon vor dem Hochschultag selbst kam es zu Kontroversen rund um die Einbindung der englischsprachigen und internationalen Studierenden der ASH Berlin, da eine Finanzierung englisch-deutscher Übersetzung nicht durch die Hochschule übernommen wurde. Die Forderung nach Übernahme der Kosten wurde auch in den Akademischen Senat getragen. Am Hochschultag protestierte eine Gruppe Studierender, welche auf diesen institutionellen Ausschluss aufmerksam machte und bekräftigte, dass es ohne Übersetzungsangebote keine Inklusion an der ASH Berlin geben könne. Dieses Thema wurde unter anderem auch bei dem studentisch organisierten Workshop am Nachmittag, der eine studentische Perspektive auf das Thema Inklusion an der Hochschule in den Mittelpunkt stellte und auf englisch stattfand, eingehender diskutiert. Aus studentischer Perspektive ist ein sehr klares Statement zu hören: „Wir fordern, dass die Hochschulleitung die Kämpfe, Stimmen und Bedürfnisse von Studierenden ernst nimmt und diese in ihren Entscheidungsfindungsprozess einbezieht und aktiv daran arbeitet, die Hochschule zu einem besseren Ort für alle Studierenden zu machen.“
Im Anschluss an den Protest der Studierenden stellte Lucas Mielke das Inklusionskonzept der Universität Potsdam vor. Dieses wurde in einem weitreichenden Prozess auf Grundlage der Daten aus der Sozialerhebung des Studierendenwerkes erarbeitet und identifiziert die Handlungsfelder Studium und Lehre, Mitarbeiter_innen und Barrierefreiheit. Es zeigt bisherige Leerstellen in Bezug auf Barrierefreiheit und notwendige Veränderungen auf. Bis 2030 sollen die beschriebenen Maßnahmen an der Hochschule umgesetzt werden. Dabei geht es nicht um eine freiwillige Selbstverpflichtung, sondern die Umsetzung gesetzlicher Vorgaben, sagt Lucas Mielke: „Es ist unsere verdammte Pflicht, die Hochschule zu einer Uni für Alle zu machen".
Abgerundet wurde der Vormittag durch die beeindruckende Spoken-Word Performance von Stefanie-Lahya Aukongo. Die Schwarze, queere, gesellschaftlich be_hinderte Künstlerin schlug die Anwesenden mit ihrer Wortgewalt und den vielfachen emotionalen Zugängen in den Bann und begeisterte durch ihre kritisch-persönlichen Analysen.
Praxen und Ausblicke für eine inklusive Hochschule
Am Nachmittag setzten sich die die Anwesenden in Workshops tiefergehend mit studentischen Perspektiven auf Inklusion, Ausschlüssen aufgrund von Sprache, digitaler Barrierefreiheit und in den offenen Werkstätten mit dem Index der Inklusion auseinander. Die Workshopergebnisse wurden in einem Gallery Walk im Audimax präsentiert und es wurde darauf hingewiesen, dass mit diesen Ergebnissen und Forderungen auch über den Tag hinaus weiter gearbeitet wird.
Eine breit aufgestellte Gruppen mit Akteur_innen aller Mitgliedergruppen der Hochschule, darunter Cindy Lautenbach, Beauftragte für Studierende mit Behinderungen, chronischen Krankheiten und psychischen Beeinträchtigungen; Azize Kasberg und Christoph Weipert aus der Kommission Barrierefreiheit; Jacqueline Obama Krause und Peps Gutsche aus dem Arbeitsbereich Intersektionale Praxis und Transformation; Urte Böhm, Elena Brandalise, Daniel Klenke, Aya Schamoni und Aygün Habibova aus dem KompetenzNetzwerk Qualitätsentwicklung in Studium und Lehre; Marie Kuna, Chrystel Brisson, Anja Neuner, Fabian Sell und Leon Barth aus dem Peer-Projekt zur Förderung von Teilhabe und Partizipation im Bereich hochschulpolitisches Engagement und Selbstorganisation im Studieneingang, Prof. Dr Heike Raab und Prof. Dr. Corinna Schmude haben den Hochschultag vorbereitet. Aus der Vorbereitungsgruppe des Hochschultages ist so, wie die Moderation Prof. Dr. Corinna Schmude treffend anmerkte, ein Nachbereitungsteam geworden.
Diese Gruppe hat es sich zur Aufgabe gemacht, die zentralen Punkte und Forderungen aus dem Hochschultag strukturiert zu bündeln und das Thema sowohl mit der Hochschulleitung als auch in relevanten Gremien wie dem Akademischen Senat und öffentlich mit allen Hochschulangehörigen weiter zu besprechen, um gemeinsame Schritte auf dem Weg zu einer inklusiven Hochschule zu planen. Die Ergebnisse des Hochschultages werden als „Haus der Inklusion“ visualisiert und zum Ende des Wintersemesters zur Kommentierung im Foyer aufgestellt. Als zentrale Handlungsfelder wurden bisher Sprache und Kommunikation, digitale Barrierefreiheit und Einbindung studentischer Perspektiven identifiziert. Diese Handlungsfelder zu bearbeiten, ist Aufgabe ALLER Hochschulangehörigen.
Die Dokumentation des Hochschultages und die Präsentation des Inklusionskonzeptes aus Potsdam stehen online zum Download zur Verfügung.