Mein erster Gedanke beim Sinnieren darüber, wie meine Vision für die ideale Hochschule aussehen würde, ist: I don’t have to explain myself – I can just be me ... the me of today … . Zu banal denke ich, und gleichzeitig schleicht sich ein Gefühl der Traurigkeit ein. Ist das eigentlich nicht selbstverständlich, einfach ich zu sein, an einem Ort, an dem ich lernen möchte? Ich spinne meine Gedanken weiter und versuche mir mit allen Sinnen vorzustellen, wie so eine Hochschule aussehen würde, an der die Menschen einfach sein können.
Wenn ich diese Hochschule betrete, fühle ich mich augenblicklich wohl. Ich fühle, dass ich hier hingehöre, hier ist mein Platz. Die Menschen lächeln mir zu, es ist eine betriebsame ausgelassene Geschäftigkeit zu beobachten. Konversationsfetzen in verschiedenen Sprachen dringen an mein Ohr:
„Was gibt’s heute in der Mensa?“ – „Hay sopa de tortilla!“ „Mmh yummy“
„من پێشنیارتان پێدەکەم لە سێمیناری جەستە و کۆمەڵگا بەشداری بکەن. ئێمە بە درێژایی سێمینارەکە هەڵپەڕین
من بە شما سمینار بدن و جامعە را پیشنهاد میکنم، ما در طول سمینار رقصیدیم“
„The connection between decolonization and the healing of intergenerational trauma as Anna Soole explained opened up a lot of questions for me ...“
„Gehst Du morgen zu dem Workshop mit Waniya Locke und Zara Mohemedî zu Sprache von Minderheiten und Widerstand?“
Ein kurzer Blick in meinen Seminar-/Stundenplan verrät mir, dass ich jetzt erst mal ein Seminar zum Thema Habitus und Embodiment habe und ich gehe mich erst mal umziehen, da wir in dieser Sitzung tanzen werden. Danach steht Gesundheitsmanagement aus intersektionaler feministischer Perspektive an – ich bin ein großer Fan von der queeren schwarzen Dozierenden. Wir lernen sehr viel voneinander in den Sitzungen, wo die Grenzen zwischen Lehrenden und Lernenden permanent fließen und im Wechsel sind. Es ist schön, dass wir alle als Wissende die Universität betreten und mit unserem Wissen aus unseren verschiedenen Erfahrungen gesehen und gehört werden.
Jetzt bin ich erst mal hungrig und freue mich über den Duft des Dhal Currys, der mir in die Nase steigt. Mit einer Portion in der Hand gehe ich gemeinsam mit Kommiliton_innen in den begrünten Hof. Eine Gruppe von Studierenden tanzt und singt kurdische Lieder. Wir setzen uns in den Schatten eines Baumes auf eine Wiese und diskutieren angeregt über das, was wir heute gelernt haben. Das Konzept des feminismo comunitario inspiriert uns, da es die Frage stellt, wie Care Arbeit gemeinschaftlich gedacht werden kann. Ich werde in meinem Vertrauen bestärkt, dass in einer Welt, wo wir alle gegenseitig in Abhängigkeit zueinander stehen, eine kollektive Verantwortung der Schlüssel ist. Mich inspiriert, dass der Fokus darauf liegt, welche Fragen wir uns stellen, um möglichst verschiedene Blickwinkel mitzudenken. Ich merke, dass unser Lernprozess darauf zielt, die Gesellschaft zu dekolonisieren und möglichst diskriminierungsarm mitzugestalten, denn das unterschiedlichste Wissen hat Platz und kann eingebracht werden und wächst durch den wertschätzenden Austausch miteinander.
Wenn ich das Vorlesungsverzeichnis durchsehe, bin ich begeistert und kann mich gar nicht entscheiden. Die Seminare, das Lehrmaterial und die Curricula sind so vielfältig wie die Lehrenden und Studierenden. Ich finde Seminare in verschiedenen Sprachen und die Möglichkeit schriftliche Aufgaben auf Deutsch, Sorani, Kurmanci, Arabisch, Türkisch, Yorouba, Spanisch, Englisch etc. einzureichen. Wenn ich möchte, kann ich aber auch Audioreflektionen, Spoken Word Art, Videos, Performances, Bilder, Musik oder auch handwerkliche Konstrukte als Prüfungsleistung einreichen, solange es der Fragestellung dienlich ist. Bei der Belegung der Seminare kann meine Freundin Anisa angeben, dass sie Gebärdendolmetscher_innen benötigt. Marley kann alle Veranstaltungen natürlich mit dem Rollstuhl besuchen, und alle Materialien sind für Kim blindengerecht zugänglich. Ich bin froh, dass ich mein Studium so organisieren kann, dass ich es gut mit meinen Care-Aufgaben vereinbaren kann.
Damit das alles möglich ist, gibt es genügend Lehrende, die jeweils intensiv den Lernprozess von einigen Studierenden begleiten können und dementsprechend individuelle Prüfungsleistungen erarbeiten können. Aber auch Studierende unterstützen sich gegenseitig. Meine Freundin Lari übersetzt für mich einen Song auf Arabisch, während ich die Abschlussarbeit von Kahled lese. Der Fokus der Hochschule liegt auf Mitmenschlichkeit und Solidarität und nicht Wirtschaftlichkeit. Die Mensamitarbeiter_innen und das Reinigungspersonal sind genauso wichtig, wie alle anderen Hochschulangehörigen und haben die Möglichkeit berufsbegleitend zu studieren. Am Ende eines Tages gehe ich gestärkt und inspiriert nach Hause: Nicht nur habe ich spannende Dinge in meinen Seminaren gelernt, die meine Lebensrealität widerspiegeln, sondern ich habe zudem von den vielfältigen Erfahrungen meiner Kommiliton_innen gelernt, die schon an Supermarktkassen oder in der Fabrik gearbeitet haben, Fluchterfahrung machen mussten, in anderen Ländern an Universitäten gelernt haben, verschiedene Sprachen sprechen, wissen was es heißt, mit dem Rollstuhl die U-Bahn zu benutzen, oder mit Hartz IV aufgewachsen sind, medizinisches Wissen haben aufgrund ihrer chronischen Krankheit, oder einfach gerne singen, tanzen oder richtig gut zuhören können. Ich habe wirklich viel gelernt!