Die Wahl der Jury des Poetik-Preises fiel auf Maxi Obexers „von den dächern“! Das Gedicht der Schriftstellerin und Trägerin des Alice Salomon Poetik Preises 2023 wird in einigen Monaten das derzeitige Werk Barbara Köhlers an der Südfassade der ASH Berlin ablösen.
In der Begründung der Jury heißt es u. a. „Wir halten ihn [den Entwurf Obexers] für eine gelungene Intervention im öffentlichen Raum, die Anlässe zur Kommunikation und Interaktion bietet.“
Es wird viel gesprochen über die Gedichte an dieser Wand. Das gehört zur jüngeren Geschichte der Hochschule am Alice-Salomon-Platz. Das scheint an diesem 20. Juni 2024, dem Tag der Bekanntgabe, durch viele gesagte Sätze fast ebenso durch wie Gomringers „avenidas“ durch das aktuell noch an der Wand platzierte Werk der wunderbaren Barbara Köhler. Ihr ist der Tag fast ebenso sehr gewidmet wie ihrer baldigen Nachfolgerin Obexer.
Die Veranstaltung bringt eine seltene Besonderheit ein, indem sie als Schöpferin ihr „von den dächern“ vorträgt. Da die wenigen Zeilen präzise gesetzter Worte und Betonungen nur einen Augenblick dauern, entsteht im Kontext dieses langen Nachmittags, der dem Ereignis der Verkündung und des daraus bald folgenden Wechsels gewidmet ist, und der Zeitspanne mehrerer Jahre, die dem Werk als Präsenz auf der Wand eingeräumt wird, eine interessante, fast anachronistische Intensität.
Doch zurück zu Maxi Obexer und „von den dächern“. Nur wenige Momente zuvor war sie nach vorne getreten, weg vom Stehpult, herunter vom Podest des Audimax, wo seitlich von ihr noch die Diskutant_innen des Round-Table sitzen. Eben war sie noch als Teil der von Lyriker Tom Bresemann, Mitbegründer der Lettrétage und Mitglied der Poetik-Preis-Jury, moderierten Runde mit Jörg van den Berg, dem Leiter des Museums Morsbroich, sowie ASH-Rektorin Bettina Völter und ASH-Professorin Jutta Hartmann dort gesessen.
Nun steht sie, im von außen durch die hohen Fenster einfallenden Sonnenlicht (siehe Bildergalerie oben), zwischen Podium und Publikum, aber auch zwischen einer Fassade draußen, die demnächst ihr „von den dächern“ zeigt, aber eben gerade noch das Werk ihrer nicht nur von ihr geschätzten Vorgängerin Barbara Köhler… und den Zeilen, die sie gleich lesend öffentlich machen wird.
In all diesen Zwischendrins trägt sie also vor – und rückt so ins Zentrum von alldem:
sie alle hier, wir
können es sein, bedroht
betroffen, berufen, sogleich
zu anderen werden
allein, wie sich finden
und nicht vergessen
dass wir liebende sindwo ist das außen, wenn wir es suchen
wer ist das außen, wenn wir es lieben
So klingt Obexers Gedicht also aus ihrem Mund von ihrer Stimme getragen, demnächst wird es stumm von der Fassade aus wirken und ähnliches oder ganz anderes in den Köpfen der Lesenden auslösen wie an diesem Nachmittag bei ihren Zuhörer_innen. Dieser Höhepunkt des ereignisreichen Tages, er verging in Windeseile, und vielleicht um ihn noch ein wenig länger festzuhalten, liest die Autorin ihr „von den dächern“ gleich noch ein zweites Mal, sinniert nachdenklich, als hätte sie gerade selbst eine neue Interpretation oder Lesart der eigenen Zeilen entdeckt. Ganz bei sich, kratzt sie sich kurz am Kinn und wechselt die Perspektive. Hatten eben noch alle die Künstlerin im Blick, ist nun sie es, die ihr Publikum beobachtet. Ehe sie sich mit allen Anwesenden auf den Weg zur zukünftigen Heimat ihres Werks macht, sagt sie wie zum Gruße: „Jetzt steht es im Raum, jetzt trete ich zurück, jetzt muss es alleine gehen und stehen.“
Vorbei an den ersten Sommerfestfeiernden erreicht die Gruppe das „Zentrum der Peripherie“, zu dem das Festival Transferale den Alice-Salomon-Platz an diesem Tage gekürt hat, und ebendort die Südfassade der Alice Salomon Hochschule, wo die Gruppe jedoch noch nicht das neue Gedicht bewundern kann. Es wird dort erst im Herbst angebracht. Angestoßen werden kann dafür aber auf die nun schon zweite 1x1,4 Meter große Edelstahl-Tafel unterhalb des Hauptwerks, die dort frisch enthüllt zum Vorschein kommt. Auf dieser findet nun Barbara Köhlers Gedicht ihren Platz neben der Tafel von Gomringers „avenidas“. Mit dem Umzug von Köhlers Zeilen in eine gute Nachbarschaft zu Vorgänger und Nachfolgerin etabliert sich dieses Prozedere, das allen Poetik-Preisträger_innen der Hochschule gerecht wird.
Um zu verstehen, wie es dazu kam und warum es lohnt, darüber zu sprechen, braucht es Blicke, die unterschiedlich weit zurück wandern.
Zuerst nur gut zwei Stunden zurück zum Beginn der öffentlichen Veranstaltung „Ein öffentlicher Text: Wie gestalten wir die Südfassade der Hochschule?“, die der feierlichen Bekanntgabe und damit Obexers Vortrag den Rahmen gab.
Und dieser Rahmen, der beinhaltet einen Raum, der eindeutig beiden Poetinnen gebührt: Obexer und ihrer Vorgängerin, der von vielen bewunderten Barbara Köhler. So eröffnete Studentin Silke Meyer mit einer intensiven Tanz-Performance zum Gedicht „Walzer Solo“ der Preisträgerin von 2017 bewegt (siehe Galerie oben), ehe sich der eingangs erwähnte Round-Table formierte und sich anknüpfend zunächst Barbara Köhler widmete, die nicht nur Poetik-Preisträgerin ist, sondern eine entscheidende Figur in der Gestaltung des Prozesses, gefeierte Künstlerin – und nicht zuletzt ein wirklich besonderer Mensch war.
Köhler folgte 2018 mit ihren Zeilen auf „avenidas“ von Eugen Gomringer. Ein Wechsel, der seinerzeit eine ziemlich überhitzte Diskussion über Kunst im öffentlichen Raum nach sich zog. Einige schossen - bewusst oder unbewusst - mit ihren Argumentationen weit über diesen Raum als Ziel hinaus und manche_r fand sich dabei in Sackgassen wieder.
Sicher, ein Gedicht, also ein Text im öffentlichen Raum, erzeugt Öffentlichkeit und ruft so qua Existenz zur Interaktion auf. Kunst am Bau will Menschen bewegen und zu Diskussionen anregen… und die lassen sich wiederum im Lichte des jeweiligen Zeitgeistes immer neu und anders betrachten. Alles ist im Fluss, kommt, geht und vergeht.
Die kluge Barbara Köhler, die leider mittlerweile verstorben ist (hier der Nachruf von Bettina Völter), beschenkte in diesem Wissen die ASH Berlin nicht nur mit ihrem eigens für die Hochschule und den Ort, an dem sie sich befindet, geschriebenen Gedicht, sie versah ihr Geschenk mit der hell- wie weitsichtigen Auflage, es müsse nach spätestens fünf Jahren ausgetauscht werden. Ein alles andere als zufällig gewählter Zyklus, entspricht er doch in etwa der durchschnittlichen Studiendauer von Studierenden mit Master-Abschluss, womit jede Generation über die Wand, die sie in der Hochschule umgibt, mitentscheiden kann – und gleichzeitig ermöglicht die Zeitspanne jeweils den drei zuletzt gekürten Poetik-Preisträger_innen eine Bewerbung um eben jenen exponierten Platz.
Bettina Völter, heute Rektorin der ASH Berlin und schon 2016/17 als Prorektorin in die Fassadendebatte involviert, beschrieb den Vorschlag von Barbara Köhler in der Round-Table-Diskussion als „eine Brücke, die von hier drinnen nach da draußen wirkt“. Kurz blickt sie sich nach diesen Worten im Plenum um, sammelt Eindrücke und Blicke auf, um einen Moment später mit einem Satz fortzufahren, der sich durchaus als Kondensat der damaligen Debatte verstehen lässt: „Denn uns ging es um Identifikation.“
Schließlich war die fehlende Identifikation der damaligen Studierenden auslösendes Moment gewesen, um nicht nur die Gestaltung, sondern auch das Prozedere dazu zu überdenken.
Moderator Tom Bresemann betont, dass „es sich immer wieder lohnt, Texte neu zu lesen“. Da sich „Kontexte ändern“ und „man sich selbst ändert“. Deshalb formuliert er „ein großes Plädoyer“, wie er sagt, „Barbara Köhlers Werk immer wieder zu besuchen“.
Jörg van den Berg teilt daraufhin Erinnerungen an die aufregenden Wochen im Jahr 2017, in denen sich Köhler oft mit ihm besprach. Er besuchte an diesem Tag nicht nur die ASH in Berlin Hellersdorf, sondern auch ihr Werk – und damit verbundene Erinnerungen. So betrachtete er schon Stunden vor der Enthüllung mit großem Interesse die Tafeln, die an die vorherigen Wandgestaltungen erinnern, diese dokumentieren und kontextualisieren. Auf dem Podium spricht er der Hochschule „ein Kompliment“ dafür aus, er halte das Verfahren als Mittel „der Archivierung der Kunst für exzellent“. Er weiß, „der öffentliche Raum tut Kunst nicht gut“, denn da sei „mehr Schrift“, aber nur wenig abseits von „Werbung und deren Botschaft“. Daraus entsteht für ihn ein Spannungsfeld, das er „als Bühne, die wir betreten“ umschreibt, weshalb er allen auf dem Podium und im Publikum des Audimax fast kämpferisch in Erinnerung ruft:
„Als Ichs haben Wir eine Verantwortung für diesen Raum.“
Wieder einer dieser Sätze, von denen in der illustren Runde einige an diesem Nachmittag fallen. Ein Satz, der nach- und weiterwirkt. Die Zuhörer_innen im Audimax, sie spüren die Verbundenheit derer auf dem Podium, die einander zugewandt lauschen, in vielen Momenten des Nachmittags. Links und rechts über ihnen rahmen handgeschriebene Zitate von May Ayim und Audre Lorde das Szenario. Beide arbeiteten mit Text, beide werden an der ASH Berlin geschätzt und von manchen verehrt. Die größte SAGE-Hochschule des Landes, sie pflegt ihren Sinn für das geschriebene Wort. Drinnen und draußen. Sie wird immer wieder anhand von Worten weiterdenken.