Das Alice Salomon Archiv (ASA) wurde 2001 am historischen Standort der Alice Salomon Hochschule (ASH Berlin) auf dem Gelände des Pestalozzi-Fröbel-Hauses (PFH) in Berlin Schöneberg eröffnet. Im selben Gebäude befand sich zuvor die Soziale Frauenschule, eine Vorgängereinrichtung der ASH Berlin, die Alice Salomon 1908 gegründet hat.
Auf Bild 1 (siehe Bildergalerie oben) sieht man das Haus III auf dem heutigen Gelände des PFH. Das Haus wurde 1914 für die Soziale Frauenschule gebaut. Das Gelände ist Teil des historischen Campus in Berlin-Schöneberg, auf dem sich die Fachhochschule für Soziale Arbeit und Sozialpädagogik (FHSS), wie die ASH Berlin lange hieß, bis 1998 befand.
Auf Bild 2 sehen wir Alice Salomon vor der Sozialen Frauenschule im Haus III kurz nach Bauabschluss.
Rohstoff(lager) der Geschichte
Bild 3 zeigt das Alice Salomon Archiv, das sich in den ehemaligen Arbeitsräumen Salomons befindet. Auf der linken Fotohälfte kann man einen Teil des Archivbestands der sozialen Frauenschule und des Bestands der Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit erkennen. Nicht im Bild sind weitere Teile des Archivs, etwa die Vor- und Nachlässe von Forscher_innen, die sich mit der Geschichte der Sozialen Arbeit befasst haben, die Dokumente ehemaliger Schüler_innen sowie die Dokumente der Familie Salomons.
Das ASA überliefert Schlüsseldokumente der Geschichte der Sozialen Arbeit. Hierzu zählen neben einem Sammlungsschwerpunkt zu Alice Salomon insbesondere die Schulakten bis 1971. Für die Hochschulgeschichte nach 1971 liegen die Unterlagen in der Registratur der ASH Berlin, die von der Verwaltung der ASH Berlin betreut werden. Auf Bild 4 sehen wir einige Ordner mit historischen Akten im ASA, wie man sie heute (noch) aus dem Alltag kennt. Ins Archiv gelangt Alltagsschriftgut einer Organisation oder einer Person, das nicht mehr für seine ursprünglichen Zwecke gebraucht wird. Daraus werden Dokumente für die langfristige Aufbewahrung ausgewählt. Diese werden umgelagert und in Archivkartons verpackt, wie sie auf Bild 5 zu sehen sind. Das sieht ein wenig anonym aus, ist aber eine wichtige Schutzmaßnahme für die historischen Dokumente. Aus Alltagsschriftgut werden so historische Quellen, die einem neuen Zweck dienen: der historischen Forschung.
Die so im Archiv bewahrten Dokumente sind als authentische Quellen der Rohstoff für eine faktenbasierte Geschichtsschreibung. In den Archivkartons liegen sie – wie auf Bild 6 zu sehen – meist in Mappen vor. Historische Dokumente haben eine eigene Sprache. Anders als Bücher, die eine Erzählung vorgeben, besteht Archivgut aus Informationsfragmenten, die wir kontextualisieren müssen, um sie zu verstehen.
Happy Birthday anno 1932
Wir haben ein Dokument aus dem ASA ausgewählt, das gut zum Geburtstag von Alice Salomon passt und uns zum Nachdenken über das Thema Erinnerungskultur angeregt hat. Bild 7 zeigt eine Ausgabe der „Mitteilungen aus der Barbarossastraße 65“, die alle zwei Monate über die Aktivitäten der von Salomon gegründeten sozialen Frauenschule und mit ihr verbundener Einrichtungen berichtete. Diese Ausgabe stammt aus dem Juni 1932 und berichtet über die Feier des 60. Geburtstags von Alice Salomon, die von „eine[r] großen Gruppe von Freunden, Mitarbeitern und ehemaligen Schülerinnen“ (S. 1, Bild 7) im Pestalozzi-Fröbel-Haus ausgerichtet worden war. Es handelt sich also um ein Dokument, dem – anders als bei den meisten Unterlagen im ASA – schon bei seiner Entstehung der Zweck des Erinnerns eingeschrieben war. Wie wollten die Verfasser_innen, dass Alice Salomons Ehrentag erinnert wird?
Doch zunächst etwas zum Kontext, in dem diese Quelle steht. Wir befinden uns im Jahr 1932. Die soziale Lage ist extrem angespannt. Aufgrund von Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, antidemokratischen Strömungen, insbesondere dem virulenten Rechtsextremismus, haben die sozialen Spannungen einen Höhepunkt erreicht. Rassehygienische Ideologien, extremer Nationalismus und antisemitische Angriffe gehören zum Alltag. Einen Tag vor der Geburtstagsfeier Salomons fanden Landtagswahlen statt, bei denen in fast allen Ländern der Weimarer Republik die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) zur stärksten Fraktion wurde. Dies bildet auch den Hintergrund massiver Einschnitte für die von Salomon mitbegründete Soziale Arbeit.
Dem gegenüber steht die Entwicklung der sozialen Frauenschule, auf die anlässlich des 60. Geburtstags von Alice Salomon in der Ausgabe der „Mitteilungen aus der Barbarossastraße 65“ zurückgeschaut wird. Seit 1908, ein knappes Vierteljahrhundert also, existiert die Schule nun. Sie ist Ursprung und Ausgangspunkt etlicher Errungenschaften in der Sozialen Arbeit und Sozialpolitik, die ab Frühjahr 1933, also nur wenige Monate nach der Geburtstagsfeier, zerstört oder der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik unterworfen werden.
Der erste Satz der „Mitteilungen" scheint unmittelbar dazu zu passen. Er lautet: „An ihrem 60. Geburtstag war Alice Salomon nicht in Berlin, um in dieser schweren Zeit jeder Feier aus dem Wege zu gehen.“ (S. 1, Bild 7) Ob dieser Satz sich tatsächlich auf den eben geschilderten gesellschaftlichen Hintergrund bezieht, wissen wir jedoch nicht.
Das Heft enthält im Folgenden eine Aufzählung der Würdigungen, Preise und Geschenke, die Alice Salomon von unterschiedlichen Einrichtungen und Personen zu teil wurden. Dazu gehören die Silberne Staatsmedaille, verliehen vom Preußischen Staatsministerium, und die Ehrendoktorwürde im Fach Medizin, verliehen von der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin, der heutigen Humboldt Universität.
Aus einer Notiz geht zudem hervor, dass der Träger der sozialen Frauenschule eine Namensänderung der Schule beschlossen hat. Sie soll nun Alice-Salomon-Schule heißen. Neben Auszügen einiger Würdigungen Salomons – etwa von Helene Weber und Hilde Lion – ist auch die Dankesrede von Alice Salomon selbst enthalten. Die besagte „schwere Zeit“, in der die Geburtstagsfeier stattfindet, wird an einer einzigen anderen Stelle im Heft erneut erwähnt und etwas deutlicher charakterisiert. Charlotte Dietrich, die 1927 Alice Salomon als Schulleiterin abgelöst hatte, richtet ihre Worte an die Jubilarin: „Ihr Kommen ist uns ein Zeichen dafür, daß sie sich uns in Zeiten der Spaltungen und Spannungen verbunden fühlen.“ (S. 4, Bild 8)
Dietrich wird kurz darauf dafür sorgen, dass die Schule mit der Machtübertragung an die Nationalsozialist_innen nicht geschlossen wird. Nur ein Jahr darauf, ab 1933, wird Alice Salomon der Zugang zu ihrer Schule verwehrt. Dietrich und ihre Kolleg_innen, die nicht entlassen oder vertrieben worden sind, gestalten den Umbau der Schule zur nationalsozialistischen Volkspflegeschule. Obwohl ein Teil der NS-Schulgeschichte bereits intensiv beforscht wurde, bildet die Frage danach, wer genau die Verantwortung für ihre nationalsozialistische Vereinnahmung trug und wer dazu beigetragen hat, bis heute eine Forschungslücke.
Dietrichs Rede geht so weiter: „Und wir sind uns alle dessen bewußt, daß wir uns heute hier zusammengefunden haben, um in Alice Salomon einem Menschen unsere Glückwünsche zu sagen, der solche Verbundenheit von jeher gelebt hat und leben wird….“ (ebd., Bild 8)
Dietrich geht also im Jahr 1932 davon aus, dass Salomon – unbenommen der Umstände – die Geschehnisse an der Schule gutheißen wird.
Diese Überzeugung nahm auch in den folgenden 20 Jahren kaum Schaden. Im Jahr 1958 feierten die Angehörigen der Schule, die nun wieder Alice-Salomon-Schule hieß, deren 50-jähriges Jubiläum. In einer Schulchronik (Bild 9) schreibt Charlotte Dietrich, die nach Ende des NS aus dem Dienst entlassen wurde, über die Schule in der Zeit des Nationalsozialismus wie folgt: „Das, was ihr Stolz war, die Alice-Salomon-Schule zu sein, wurde zur schweren Aufgabe. Es hieß nicht nur, sich äußerlich zu behaupten, sondern auch innerlich intakt zu bleiben und den Geist, aus dem sie erwachsen war: den Willen zu helfen und Leid zu mindern aus dem Geiste der Menschlichkeit heraus, aufrechtzuerhalten und weiterzupflegen.“ (S. 4, Bild 10) Wieder bezieht sich Dietrich auf die Schulgründerin, um das institutionelle Ethos der Schule zu unterstreichen. Dieses Ethos scheint durch die Vertreibung Salomons und vieler weiterer Schulangehöriger und die weiteren Verstrickungen der Schule in die nationalsozialistischen Verbrechen unberührt zu sein.
Aber nochmal zurück zu den „Mitteilungen“. Wir werfen nun einen Blick in die Ansprache Salomons zu ihrem 60. Geburtstag. Eingangs berichtet sie von den vielen Glückwünschen, die sie aus der ganzen Welt erreicht haben. Sie schreibt: „Nicht nur natürliche und juristische Personen, selbst eine Bergkette und ein Gebirgstal haben mir Wünsche gesendet. Wie ich das alles gelesen habe, was da über mich gesagt und gedruckt worden ist, bin ich mir zum Schluß ganz fremd vorgekommen.“ (S. 7f., Bild 11 und 12) Dies ist ein Schlüsselsatz.
Und Salomon fährt fort: „Eines aber hat mich im Innersten gepackt und hat mir mein Leben irgendwie neu gezeigt: Nämlich die Tatsache, daß Hunderte von Briefen mit den Worten anfangen: ‚Sie werden sich ja nicht erinnern, aber meine Begegnung mit Ihnen hat meinem ganzen Leben Richtung gegeben.‘“ (ebd. S. 8, Bild 12). Auch dies: ein Schlüsselsatz.
Forschung im Archiv als Intervention
Die Briefschreiber_innen stellen offenkundig den persönlichen, identitätsbildenden Einfluss Salomons auf sich selbst in den Vordergrund. Die Erinnerung an Begegnungen, die sie schildern, sagt mehr über sie selbst als über ihre Adressatin. Vielleicht erklärt das einen Teil des Fremdheitsgefühls, das Alice Salomon zu ihrem Geburtstag 1932 ausdrückt.
Wir können Glückwünsche und Ehrungen als Prozess des Erinnerns begreifen. Sie sind Bestandteile einer aktiven Erinnerungskultur, die immer einen Zweck in der Gegenwart verfolgt. Alice Salomons Gefühl der Fremdheit in Anbetracht der Glückwünsche zu ihrem Geburtstag eröffnet für uns einige Fragen. Was prägt das Bild, das wir von Alice Salomon zu ihrem 150. Geburtstag zeichnen? Gibt es neben einer identitätsbildenden Erinnerung, die immer auch eine Vereinnahmung bedeuten kann, eine Alternative, um sich der Person Alice Salomon zu nähern?
Wir möchten einen möglichen Weg vorschlagen, nämlich das wir uns dem Menschen Alice Salomon mit offenem Interesse nähern. Dass wir uns fragen, was sie dachte, schrieb und wie sie lebte, welche Beziehungen sie führte. Dass wir uns fragen, warum sie zu ihrem 60. Geburtstag nicht zu Hause in Berlin verbringen wollte, welche Bergtäler und Gebirgsketten sie zum Geburtstag grüßten, wer sie von der Schule ausschloss.
Diese Fragen führen uns zurück ins Archiv. Die Zeugnisse von Alice Salomons Existenz und ihres Schaffens – Briefe und Protokolle, Notizen und Körperschaftsakten – legen Spuren zu möglichen Antworten. Sie eröffnen ein komplexes, mitunter streitbares und widersprüchliches Bild von Alice Salomon und erlauben ganz unterschiedliche Blicke auf ihre Biografie. Unabhängig von Alice Salomons scheinbar klaren Positionen, auf die wir uns mitunter berufen, um unsere eigenen zu untermauern, von ihrer vermeintlichen Zustimmung zu dieser oder Ablehnung jener aktuellen Position, bringen uns diese Unterlagen vielleicht näher zu einem Verständnis davon, was heute in unserer Welt von Alice Salomon weiterwirkt. Die Forschung im Archiv kann so einerseits das Erinnern ergänzen. Und sie kann – und muss – als Korrektiv dienen, als kritische Intervention in unsere Erinnerungs- und Gedenkkultur.
Dayana Lau und Friederike Mehl arbeiten im Alice Salomon Archiv der ASH Berlin, wo sie anlässlich des 150. Geburtstags von Alice Salomon zusammen mit Sabine Toppe den Band „‚Über alle Parteiungen weg‘? Aktuelle Gedanken zu Alice Salomons Schlüsseltext „Die sittlichen Grundlagen und Ziele der Wohlfahrtspflege" (2022, Verlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Wohlfahrtspflege) herausgegeben haben. Dieser Artikel basiert auf einem Redebeitrag, den Dayana Lau und Friederike Mehl für den Festakt zum des 150. Geburtstag Alice Salomons in der ASH Berlin am 2. Mai 2022 vorbereitet hatten. Der Beitrag wurde im Laufe der Veranstaltung gestrichen. Der vorliegende Text ist inhaltlich unverändert, wurde jedoch von den Autor_innen von einer Rede in ein Leseformat überführt.