Forschung Migration und Gesundheit

Interview mit Prof. Dr. Theda Borde über ihren Forschungsschwerpunkt und was in Deutschland dafür getan werden muss

Theda Borde im Porträt mit braunen langen Haaren
Theda Borde ASH Berlin
Sie haben Politologie studiert und dann 11 Jahre ein internationales Bildungs- und Beratungszentrum für Immigrantinnen in Berlin geleitet. Wie kamen Sie dann zu Gesundheitswissenschaften?

Mein Interesse an den Gesundheitswissenschaften hat sich während meiner Arbeit im Beratungszentrum entwickelt, denn viele Frauen und Familien suchten auch Beratung bei Gesundheitsproblemen, die sie allein nicht bewältigen konnten, weil die sprachliche Kommunikation nicht klappte, sie nicht wussten, an wen sie sich wenden sollten oder sie weder die Diagnose noch die Therapie verstanden hatten. Versorgung rund um Schwangerschaft und Geburt, Fragen zur Gesundheit der Kinder, arbeitsbedingte Erkrankungen, chronische Erkrankungen oder auch psychische Probleme wurden an uns herangetragen. Mein Interesse an den Gesundheitswissenschaften entwickelte sich, weil ich über den Einzelfall hinaus die strukturelle Ebene genauer in den Blick nehmen wollte. Die wertvollen Praxiserfahrungen verbunden mit konkreten Fragestellungen haben mich zu Public Health und wieder zurück in die Wissenschaft bewegt.

Migration und Gesundheit sind Ihre Forschungsschwerpunkte. Wie kam es dazu?

Als ich anfing mich mit dem Thema Migration und Gesundheit zu befassen, gab es nur eine überschaubare Anzahl an Publikationen. Das 1985 von Jürgen Collatz et al. herausgegebene Buch „Gesundheit für alle“ hat mich motiviert hierzu weiter zu forschen. So habe ich meine Masterarbeit zur Gesundheitsversorgung von Immigrant_innen geschrieben und das Thema dann ab 1996 als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Charité in Public Health-Forschungsprojekten zusammen mit Matthias David, der damals Assistenzarzt in der Frauenklinik am Campus Virchow-Klinikum war und heute Professor an der Charité ist, weiterverfolgt. Als ich 2004 als Professorin an die Alice Salomon Hochschule Berlin wechselte, haben wir diese produktive Zusammenarbeit fortgesetzt.

Sie haben die Berliner Forschungsgruppe „Migration und Gesundheit“ gegründet. Was ist deren Ziel?

Motivation für unsere Forschungsgruppe „Migration und Gesundheit“ war, die in den gemeinsamen Forschungsprojekten erlebten Potenziale der Kooperation verschiedener Disziplinen, Denkweisen und Blickrichtungen zu nutzen und durch Versorgungsforschung auf einem bisher vernachlässigten Gebiet Handlungsnotwendigkeiten zu identifizieren und damit Einfluss auf die Verbesserung der Gesundheitsversorgung für alle in der Einwanderungsgesellschaft zu nehmen. Wir haben diverse Forschungsprojekte zum Thema durchgeführt, beteiligen und qualifizieren nach wie vor Studierende und Doktorand_innen der Medizin, der Sozialen Arbeit und der Gesundheitswissenschaften an der Forschung, haben Weiterbildungsprogramme für Gesundheitsfachkräfte entwickelt, Fachtagungen organisiert und vieles mehr. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Medizin, Gesundheitsfachberufen, Sozialwissenschaftler_innen und Sozialarbeiter_innen hat den Blick über den jeweils eigenen Tellerrand erweitert und alle Beteiligten immer wieder neu inspiriert.

Als Rektorin der Alice Salomon Hochschule Berlin engagierten sie sich insbesondere für die Öffnung der Hochschule für sogenannte „nicht-traditionelle Studierende“. Was gab damals den Anlass dafür und wie wurde das Vorhaben umgesetzt?

Der Zugang zu Hochschulen für Kinder aus nicht-akademischen Elternhäusern und die Durchlässigkeit von Bildungsverläufen waren mir und auch weiteren Kolleg_innen an der ASH Berlin wichtige Anliegen. Als passende Förderprogramme ausgeschrieben wurden, haben wir nicht lange gewartet und unsere Ideen zu Papier gebracht. So konnten wir z. B. im BMBF-Programm „Offene Hochschule – Aufstieg durch Bildung“ den B.Sc. Interprofessionelle Gesundheitsversorgung – online, der auf Berufstätige in den Gesundheitsberufen ausgerichtet ist, forschungsbasiert entwickeln, erproben und 2019 als Regelstudiengang an der ASH Berlin etablieren. Eine weitere große Aufgabe und Chance für unsere Hochschule war der Aufbau des konsekutiven M.Sc. Public Health in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität und der Charité, der seit 2015 an der Berlin School of Public Health angesiedelt ist. Ein besonderes Merkmal für den Berliner Masterstudiengang Public Health ist die interdisziplinäre und institutionsübergreifende Kooperation. So fließt auch das spezifische Profil der ASH Berlin als Hochschule für angewandte Wissenschaften mit Schwerpunkten wie Soziale Determinanten von Gesundheit, Intersektionalität, Diversität, Bedeutung der Frühen Kindheit für Gesundheit und die interprofessionelle Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe in die Qualifizierung der Masterstudierenden ein.

 

„Bis heute beeinträchtigen Sprachbarrieren das Recht auf Information und Aufklärung im Gesundheits- und Sozialwesen..."


Wo steht Deutschland in Bezug auf Diversität im Gesundheits- und Sozialwesen?
Was muss sich in Deutschland noch in Bezug auf das Thema Gesundheit von Migrant_innen tun?

Bis heute beeinträchtigen Sprachbarrieren das Recht auf Information und Aufklärung im Gesundheits- und Sozialwesen, denn es fehlt an zuverlässigen Strukturen und der Finanzierung qualifizierter Sprachmittlung. Eine gute Verständigung ist für Fachkräfte und Immigrant_innen mit geringen Deutschkenntnissen eine wesentliche Voraussetzung für eine gleichberechtigte Teilhabe, für die Qualität der Versorgung und Beratung sowie für die professionelle Handlungsfähigkeit der Fachkräfte. Es besteht in Deutschland dringender Handlungsbedarf Diskriminierung aufgrund von Sprachbarrieren entgegenzuwirken.
Als 2015 erstmals der Migrant Integration Policy Index (MIPEX) um den Bereich Gesundheit erweitert wurde, konnten wir feststellen, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern gerade einmal das untere Mittelfeld bei der Gleichstellung von Migrant_innen im Gesundheitsbereich erreichte. Fünf zentrale Problembereiche wurden identifiziert: (1) der Anspruch auf Gesundheitsleistungen ist durch §4 AsylbLG eingeschränkt, (2) es wird versucht, strukturelle Defizite in der Versorgung von Migrant_innen durch zeitlich befristete und regional begrenzte «interkulturelle» Projekte vielfältiger Akteure zu kompensieren, (3) es fehlen flächendeckende Strategien und Maßnahmen auf politischer und institutioneller Ebene, (4) die Datenlage ist defizitär und es besteht ein hoher Forschungsbedarf v. a. in der Versorgungsforschung und (5) das Gesundheitspersonal ist nicht ausreichend auf Diversität vorbereitet. Seitdem hat sich nicht viel verändert, wie die Auswertungen des MIPEX 2020 zeigen.

Sie haben viel zu Immigrantinnen und Schwangerschaft und Geburt geforscht.
Was waren zentrale Ergebnisse?

Das ist so kurz gar nicht zusammenzufassen, denn Immigrantinnen sind eine sehr heterogene Gruppe. Es ist nötig genauer zu differenzieren und auch die Wechselwirkungen mit anderen sozialen Determinanten von Gesundheit und weiteren kontextuellen Faktoren des Gesundheitssystems mit in den Blick zu nehmen. Eine unserer Studien zeigte, dass Immigrantinnen im Vergleich zu Frauen ohne Migrationserfahrung trotz sozioökonomischer Benachteiligung, insgesamt ähnliche oder bessere geburtshilfliche Indikatoren aufweisen. Probleme weist dagegen die Versorgungssituation neu immigrierter und geflüchteter Frauen auf, deren spezifische Voraussetzungen und Bedürfnisse (z. B. in Bezug auf sprachliche Kommunikation) vom Versorgungssystem nicht zufriedenstellend beantwortet werden.

Aktuell forschen Sie in der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsgruppe „Fluchtmigration nach Deutschland: ein ‚Vergrößerungsglas‘ für umfassendere Herausforderungen im Bereich Public Health“ im Projekt PROREF und leiten das Zusatzprojekt PROREF – Mental Health. Gibt es schon Ergebnisse?

Mit dem PROREF-Projekt knüpfen wir an eine frühere Studie zur perinatalen Gesundheit in Berlin an und versuchen bestehende Erkenntnislücken in Bezug auf neu Zugewanderte und geflüchtete Frauen zu schließen. Das Projekt ist in einem mixed-methods Ansatz mit einer kooperativen Projektleitung von Matthias David an der Charité und mir an der ASH Berlin konzipiert. In den quantitativen Studienteil konnten inzwischen 3200 Frauen, die in drei Berliner Geburtskliniken ein Kind bekommen haben, einbezogen werden. Immigrantinnen und geflüchtete Frauen sind hier ihrem Anteil an der Bevölkerung entsprechend repräsentiert. Im qualitativen Studienteil wurden vertiefte Interviews mit 33 geflüchteten Frauen aus 19 Herkunftsländern und 80 Fachkräften aus der Versorgung rund um Schwangerschaft und Geburt in Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen befragt. PROREF-Mental Health analysiert psychische und psychosoziale Aspekte im Kontext von Schwangerschaft, Geburt und dem Leben mit dem Neugeborenen bei arabischsprachigen Frauen. Wir sind noch mitten in den Auswertungen, doch einige erste Ergebnisse der qualitativen Studie werden im aktuellen alice Magazin (S.33-35) vorgestellt.

Sind dies Ihre letzten Projekte vor dem Ruhestand oder haben Sie schon weitere Pläne?

Jetzt kommt wohl eine selbstbestimmtere Lebensphase auf mich zu. Die Lehre und der Austausch mit Studierenden, Kolleg_innen und Mitarbeiter_innen der ASHund auch die Begleitung von Abschlussarbeiten haben mir immer sehr viel Freude gemacht, gern verzichte ich aber auf die Bewertung und Benotung von Leistungsnachweisen und langwierige Gremiensitzungen. Es gibt auch nach dem Auslaufen der Finanzierung des PROREF-Projektes noch einiges abzuschließen. Die Zusammenführung der Ergebnisse der beiden Studienstränge, die Begleitung der Doktorand_innen und Veröffentlichungen werden uns sicher noch eine Weile beschäftigen und auch unserer Arbeitsgruppe „Migration und Gesundheit“ bleibe ich verbunden. Gerade habe ich mit Prof. Dr. Jalid Sehouli und Dr. Ute Siebert an der Charité mit „Empowerment für Diversität“ ein neues Projekt gestartet, das für 3 Jahre von der Mercator Stiftung gefördert wird. Gemeinsam mit engagierten Kooperationspartner_innen in Gesundheitseinrichtungen sowie an Universitäten, Hochschulen und Berufsfachschulen sollen Kompetenzen und Strukturen für Diversitätsgerechtigkeit und Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung weiterentwickelt und erprobt werden, um bestehenden Diskriminierungsrisiken und Rassismus in der Gesundheitsversorgung in Deutschland strukturell entgegen zu wirken. Für die nachhaltige Umsetzung in Politik und Praxis wird ein bundesweites Netzwerk von relevanten Institutionen und Akteur_innen aufgebaut.

 

Literaturtipp
Knipper M, Razum O, Borde T, Brenne S, Kluge U, Markus I. Migrant Integration Policy Index Health Strand. Country Report Germany. 2017, International Organization for Migration. http://equi-health.eea.iom.int/images/MIPEX/GERMANY_MIPEX_Health.pdf) & Migrant Integration Index 2020;  https://www.mipex.eu/

 

 


 

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